Teil 1

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Der plötzlich einsetzende Regen zeichnete kurz dunkle Flecken in die Ascheschicht, bevor er sie komplett in eine dicke, klumpige Masse verwandelte. Bald würde die ganze Gegend mit Schlamm bedeckt sein. Doch so viel Mühe sich der Regen hier auch immer geben mochte, er würde Hell's Kitchen niemals sauber waschen.

Kaum ein Licht zeichnete sich in den verlassenen Straßen des Nachts ab. Hier draußen gab es keine funktionierende Straßenbeleuchtung und kein aktives AR. Aus keinem der Fenster drang Licht, denn die vorhandenen Bewohner verstanden es ausgezeichnet, das zu verhindern. Regenwolken verbargen die Sterne.

Dennoch war es nicht stockfinster. Jedenfalls nicht für die Augen des Elfenmädchens, das sich dicht an den verfallenen Häusern entlang der Straße bewegte. Natürlich musste sie sehr vorsichtig gehen, schon allein wegen der scharfkantigen Steine aus erkalteter Lava, die hier überall lagen.

Langsam löste sich die zierliche Gestalt aus den Schatten. Durch den Regen lugten ihre spitzen Ohren deutlich durch die normalerweise schneeweiße, jetzt aber eher graue Haarpracht, hervor. Das Wetter hatte die trostlose Umgebung noch verlassener werden lassen. Selbst die Teufelsratten hatten sich in Deckung begeben.

Sie beschloss nun offener der Straße zu folgen, so würde sie etwas schneller vorankommen. Sie spürte die Kälte nicht und die Angst machte ihr nichts aus. Sie kannte nur ein Ziel und das lautete Tarislar. Denn dort wollte sie die Ancients aufsuchen und eine von ihnen werden. Nur der Tod konnte sie stoppen.

Schon vor ein paar Jahren hatte sie es sich zum Ziel gesetzt eines Tages ein Ancient zu sein. Damals hatte sie eine Gruppe von ihnen auf ihren Bikes durch Redmond fahren sehen. Majestätisch hatten sie auf sie gewirkt. Wie Ritter in schwarz-grünen Rüstungen. Die Elfen-GoGanger kannten sicher weder Angst noch Hunger und sie mussten sich vor niemandem verstecken. Sie waren wie eine Familie, die einen schützte, auf die man sich verlassen konnte und die sich im Gegenzug auf sie verlassen würden. Wenn sie eines Tages zu ihnen gehörte, dann würde sie das erste Mal in ihrem Leben erfahren, was es heißt, nicht allein zu sein. Ja, sie würde Freunde, eine Familie haben und dann würde sie sich einen Namen geben.

Nein, sie hatte keinen Namen. Den aus dem Waisenhaus, in dem sie die ersten fünf oder sechs Lebensjahre gewesen war, kannte sie nicht mehr. Sie hatte ihn absichtlich vergessen. Die Kids, -sie wurden immer nur die Namenlosen genannt- mit denen sie eine Weile in einem Keller in Redmond gehaust hatte, hatten sie nur Girl genannt. Manchmal hatte jemand dann noch ein Y an den Namen gehängt. Vollkommen einfallslos, aber anders hatte sie es nie gewollt. 

Vor ein paar Jahren, wenn Girl darüber nachdachte waren es wohl vier, war es eines Tages wieder mal an der Zeit geworden „umzuziehen“. Die örtlichen Mafiaschläger hatten den Keller in dem sie gelebt hatte überfallen und dabei waren die meisten ihrer Mitbewohner draufgegangen. Girl hatte in einem Loch versteckt überlebt. Zitternd hatte sie gewartet, dass es vorbei war. In dieser Nacht war Katze die ganze Zeit bei ihr gewesen.

Katze zeigte Girl neue Wege des Überlebens. Katze kannte Verstecke, sie konnte gut schleichen, bewegte sich geschmeidig und hasste den Dreck. Girl hasste den Dreck auch. Nicht den, der auf der Strasse lag, sondern den, der an einem kleben blieb. Girl wusch sich, so oft sie konnte und steckte jeden vom Munde abgesparten NuYen in den Waschsalon. 

Girl hatte keinen richtigen Namen und keinen Geburtstag. Das Datum, das man im Waisenhaus nach einer ungefähren Schätzung für sie festgelegt hatte, hatte sie ebenfalls freiwillig vergessen. Girl hatte kein festes Zuhause, kannte weder Sicherheit noch Familie. Darum zählte sie die Minuten, Stunden oder Tage nicht. Nur die Jahre, die vergingen, vermerkte sie für sich. 

Girl erlebte den Augenblick und jammerte nicht, weder über den Hunger, noch über Schmerz. Sie stahl, was sie brauchte und hatte manchmal mehr, manchmal nichts. Girl lebte auf der Straße und das machte sie hart. Hier war jeder neue Tag, jede neue Nacht, ein Sieg. Ein erkämpfter Erfolg. Ihre Zukunft war zwar nicht vorherbestimmt, aber sie hatte auch kein Ziel vor Augen.

Das änderte sich an dem Tag, an dem eine Gruppe von Orks plötzlich in Deckung ging, weil Ancients vorbeifuhren. Mit den elfischen Go-Ganger war ein Ziel am Horizont aufgetaucht und ab da hatte sie auf ihr „Ticket” dorthin gewartet.

Vor drei Tagen hatte Girl ihr Ticket in Form einer Colt Manhunter gefunden. Eine imposante Waffe und 14 Schuss waren noch im Magazin. Girl hatte sie einem schwer verletzten Troll abgenommen, der nach einer Schießerei mit Japsen in einer Gasse halbtot rum gelegen hatte. Die Waffe würde ihr helfen sich durch mehr als halb Seattle bis nach Tarislar durchzuschlagen. Dort, ganz im Süden der Stadt, so wusste Girl inzwischen, hatten die Ancients ihr Hauptquartier.

Nun war sie bereits bis in die unmenschliche Gegend von Hell's Kitchen gelangt. Acht Schuss waren jetzt noch übrig. Hierher fuhren weder Taxi noch Bus oder Monorail. Und selbst wenn, die Kohle, die ihr noch geblieben war, hob sie für Waschsalon und Seife auf, denn sie würde auf keinen Fall ungewaschen vor die Ancients treten.

“Hey, Katze”, sagte Girl laut, “meinst du, die Straße ist sicher?” “Sicher genug für dich, Elfenmädchen,“ war die Antwort.

Vierzehn Stunden später betrat Girl einen Waschsalon in Downtown Tarislar. Die Architektur des Stadtteils unterschied sich vollkommen von der in den Redmond Barrens. Steinfiguren, Efeu und Ornamente verzierten nahezu alle Fassaden. Dieser Eindruck verstärkte sich über AR noch. Hier war die vorherrschende Farbe Grün, allerdings kam das diesmal von den vielen Pflanzen und nicht von dem Smaragdlook der Innenstadt. Auch das Bevölkerungsbild war ein anderes. Der Anteil an Metamenschen, vor allem an Elfen, war viel höher als anderswo in Seattle, und sie hatte in der vergangenen Stunde nicht einen einzigen Menschen gesehen.

Über der Eingangstür des Waschsalons „Magic White“ schwebte auf AR eine kleine, geflügelte Fee mit strahlend weißen Zähnen, die mit einem Zauberstab die Luft rein zu waschen schien. Das Bild des Pixies flackerte. Girl tippte gegen den Draht an ihrer Schläfe, das AR Empfangsteil schien defekt zu sein. Sie zuckte mit den Schultern. Am Automaten mit der One-Way-Kleidung zog sie sich ein übergroßes T-Shirt, um dann zielstrebig das Damen WC aufzusuchen. Dort zog sie sich aus, streifte das erworbene Shirt über und schlenderte grinsend zu den Waschmaschinen. Girl wählte wie immer das teuerste Waschmittel und gab per Knopfdruck einen Reflexverstärker für schwarze Wäsche hinzu. 

Eine kleine Weile sah sie ihren Klamotten beim Bad zu und ging dann zurück zur Damentoilette. Dort wusch sie ihre Haare im Waschbecken und säuberte sich gründlich und voller Genuss. Zwischendurch betrat eine Zwergin das improvisierte Badezimmer und warf ihr einen missbilligenden Blick zu, aber Girl grinste nur breit.

Der Handtrockner diente ihr als Fön. Ihr jetzt wieder strahlendweißes, schulterlanges Haar umwuselte sie wild und es zeigten sich silberne und eisblaue Reflexe darin. Nun noch ein wenig Make Up, das ihre eisblauen Augen betonte…perfekt! Girl war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden. Sie wusste, dass sie sehr hübsch war, ein bisschen zu dünn vielleicht, aber bereits ausreichend an den wichtigen Stellen gerundet, um darüber hinwegzutäuschen. Sie brachte ihr Gesicht ganz nah an den Spiegel heran, streckte keck die Zunge hinaus und rückte dabei ihren Busen zurecht. Falls es hier Kameras gab, hatten die dahinter wenigstens was zum gucken.

Sie kehrte zur Maschine zurück, zog sich einen Stuhl heran, hockte sich darauf und folgte mit dem Kopf der Rotation der Waschmaschine. Beim einsetzenden Schleudergang wurde ihr schwindelig und Girl ließ sich auf den Hintern fallen.

Als die Wäsche fertig war, schlüpfte sie in ihre neu geschwärzten, sauberen Jeans und freute sich bald am Ziel ihrer Reise zu sein.

*reckundstrekgenüsslich* Hoffe Ihr habt Spass; *knutschi*