Tales of Snowcat 26: The Return (Run 76)

TALES OF SNOWCAT (26)

PERIOD4: Magician

ERA4: Modern Baroque

AGENDA8: Boston Lockdown

TIMESTAMP1: 10/21-22/2076

RUN NO: 76

ON THE RUN: Liam, Mr. Tea, Phoenix, Sinister, Snowcat;

APPEARANCE2 : AveRage, Dana10, Doc, Eden, Fang, Foggy, Hamaka, Liam, Medaron13, Mr. Tea, Phoenix9, Shark Finn, Sinister, Sionn, Snowcat, Tiernan;

SPECIAL APPEARANCE2;5:Dave, Five by Five12 (Fuego, Mississippi, Rock, Sirrus, Stalker✝︎), Kariwase12, Tango; 

SPOILER ALERT: Die Episode enthält massive Spoiler auf „Boston Lockdown“ von Catalyst Game Labs.

WARNING: Dieser Text ist für Leser unter 17 Jahren nicht geeignet. Sexualität, Gewalt, Magie, Tod, Kraftausdrücke, Folter, Rassismus, Alkohol- und Drogenkonsum können vorkommen. 

DAS GESCHAH ZULETZT:

Aus den Daten, die Pax bei sich hatte, konnten Doc und Liam vier Orte ausmachen, an denen am Tag des Ausbruchs magische Rituale stattgefunden haben sollen. In kleinen Teams suchen die Runner die Orte auf, können bestätigen, dass es dort Rituale gegeben hat und dokumentieren, was sie herausfinden. Dank Snowcats Ausbildung und ihrem Wissen lässt sich das alles zu einem plausiblen Bild zusammensetzen. Am letzten der vier Orte entdeckten sie einen weiteren Hinweis. In den Evo-Docks soll es einen Cold Storage mit den gesamten Daten der Einzelprojekte zum Gesamtritual geben, mit denen man Namen und Projektdaten zuordnen kann. Die Runner beschließen, die Daten zu holen und sich dabei gleich noch um den Hivemind zu kümmern (Tag 125).

Der Doppelrun gelingt. Ein kleines Team kann sämtliche beweiskräftigen Daten von dem Cold Storage entwenden und zudem manipulierte Nanitenflüssigkeit beim Hivemind einschleusen (Tag 131). Mit den Daten lassen sich alle Projekte, Rituale und Namen verbinden. Informationen über den aus dem Labor ausbrechenden, irisierenden Drachen sind nicht darunter. Liam entdeckt einen Hinweis darauf, dass Videos aus dem Kernlabor nicht hochgeladen werden konnten und so noch in dem Labor in Harvard sein könnten. Außerdem existiert ein Augenzeuge: Dr. Gaiden Alcoval, der in den NeoNET Tower 4 gebracht worden ist. 

Ein kleines Team macht sich aus der MCZ heraus auf, den NeoNET-Tower 4 zu infiltrieren. Die Extraktion von Dr. Alcoval gelingt und man kann mit ihm fliegend - in Drake, Adler und Schildkröte verwandelt - in die MCZ zurückkehren, wo weitere Runner auf die kleine Gruppe warten (Tag 134).

Anmerkungen:

1. Der Zeitstempel wird an unsere Zeitlinie angepasst und ist maximal an die offizielle Timeline angelehnt.

2. Die Episode wurde am 08.03 erspielt. Neben mir und dem GM waren die Spieler von Eden/Mr. Tea, Fang/Sinister und die Spielerin von Phoenix anwesend. Da wir eine große Gruppe von 8 Spielern sind, nimmt jeder Spieler meist nur einen Charakter mit auf den Run. (Unter Umständen kann ein weiterer Charakter für den Run notwendig sein.) So sollen zu viele gleichzeitige Handlungsstränge vermieden werden. Nur in der ausgespielten Downtime kann ein Spieler alle seine aktiven Charaktere ausspielen. Wegen den Widrigkeiten und Schönheiten des RL können nur selten alle Spieler am Spielabend teilnehmen. Deshalb können Charaktere ohne weitere Erklärung auftauchen oder verschwinden. Darüber, welche Charaktere mit auf einen Run gehen, entscheiden die Spieler nach eigenem Gefallen. Das muss nicht immer die logischte Entscheidung sein. Manchmal ist ein Charakter mit auf einem Run, obwohl sein Spieler abwesend ist. In diesen Fällen wird der Charakter zwar mitgeführt, sein Handeln gerät, wenn möglich, aber in den Hintergrund. Das Spotlight soll auf Charakteren liegen, deren Spieler anwesend sind. Gegebenenfalls hinterlassen Spieler beim GM Regieanweisungen. 

Eine Beschreibung aller Charaktere findest du hier [LINK].

3. Die verlinkten Songs sollen lediglich zu Stimmung beitragen und enthalten keine versteckten Hinweise. Jedenfalls meistens nicht :). Übrigens kaufen wir jeden in den Episoden verwendeten Song, sollte er sich nicht schon vorher in unserem Besitz befunden haben. Nicht nur, damit wir die Songs jeder Zeit auf all unseren Geräten abspielen können, sondern auch, weil wir damit den jeweiligen Künstler unterstützen möchten. Eine Liste mit dem aktuellen Soundtrack findest du hier [LINK]. Eine YouTube Playlist zur aktuellen Season findest du hier [LINK].

4. In den ‚Tales of Snowcat’ erzählt Snowcat einem imaginären, nicht näher definierten Zuhörer die Ereignisse aus ihrer ganz persönlichen Sicht. Seit dem Weggang von Katze führt Snowcat auch Tagebuch. Was ihr zunehmend wichtiger wird, da ihr die Dialoge mit Katze fehlen. Man kann ToS demnach auch als Tagebuchauszug betrachten. ‚Period‘ beschreibt dabei den Lebensabschnitt auf dem sich Snowcat befindet. ‚Era' beschreibt das Thema, unter das Snowcat in dieser Zeit den Inhalt ihres Kleiderschranks gestellt hat. ‚Broadcast‘ fasst zusammen, was von dem per Drohne gedrehten Material dem Trideo-Zuschauer der Serie Snowcat and the Howling Shadows zur Verfügung gestellt wird und wann es gestreamt wird.

5. Einige der Namen, die in der Geschichte auftauchen, sind auch in der offiziellen Shadowrun-Welt ein Begriff. Ähnlichkeiten sind beabsichtig. Allerdings kann das hier dargestellte Bild auch deutlich von dem Bild im SR-Kanon abweichen, da es unserer Spielwelt angepasst wurde.

6. Teilweise stehen Dialoge in diesen « » Textzeichen. Die gesprochenen Worte werden dann vornehmlich via Teamnetzwerk oder Commlink verbreitet und sind für Wesen, die keine Mitglieder im Teamnetzwerk sind, nicht oder nur schwer zu hören. Ferner stehen in < > schriftliche Nachrichten und in ‹ › stehen Dialoge via Geistesverbindung, wie zum Beispiel die mit einem Geist unter Kontrolle, Gespräche via Mindnet oder Dragonspeech. Wird zusätzlich eine andere Schriftart verwendet, handelt es sich um unausgesprochene Gedanken oder extra-persönliche Anmerkungen von Snowcat.

7. Snowcat sieht die Geister, die einen Element zugeordnet sind als klassische Elementarwesen:  Luftgeister sind Sylphen, Erdgeister Gnome (früher Brownies), Feuergeister Salamander und Wassergeister sind Undinen. Jeder Geist, den sie beschwört, hat für sie zudem einen eigenen Namen. Guidance Spirits sieht Snowcat als weise Paten, die sie mit Godfather und Godmother betitelt. Guardian Spirits sind für sie Warden, also Krieger verschiedenen metamenschlichen Rassen. Die Warden tragen als Hommage an meine Lieblingsbuchsreihe den ‚Dresden Files‘ von Jim Butcher, die Namen von den Warden des White Council. Spirits of Man sind für sie Leprechauns (Kobolde) und Task Spirits sind Brownies. Beast Spirits bekommen den Titel Master und Plant Spirits den Titel Mother (z.B. Master Wolf oder Mother Oak). 

8. Schlagwort(e), Überschrift(en) unter denen die Episode steht.

9. Phoenix wird von der Spielerin T. geführt. Sie ist neu in der Gruppe und ein RPG-Frischling. Phoenix stieß als Reporterin Alba zum Team. 

10. NPC, der in Boston gerettet wurde und für den Verlauf der Geschichte keine wichtige Rolle spielt. Max und Caroline sind eine Hommage an die Serie: Two Broke Girls.

11. Nach dem Tod von Columbo übernahm Spieler I. die Charakterführung von Dana, die ursprünglich als NPC gedacht war.

12. Bei dem Charakter handelt es sich um einen Runner, den die Howling Shadows in Boston getroffen und mit nach Snow Haven genommen haben. Diese Charaktere werden vom GM oder von einem anwesenden Spieler geführt. Je nachdem, wer gerade Zeit zum Würfeln hat oder einen solchen Charakter ausprobieren mag.

13. Medaron wird von dem Spieler M2 geführt. Auch M2 ist ein RPG-Frischling. 

14. Bei dem Text handelt es sich um eine umgeschriebene Übersetzung aus dem Boston-Lockdown-Quellenbuch. Der Originaltext ist aus der Sicht von Majay geschrieben. Auf den Videoaufnahmen wird das virtuelle/Matrix-Geschehen wahrscheinlich nicht zu sehen gewesen sein. Wir haben es trotzdem übernommen. Nach über eineinhalb RL-Jahren, die die Spieler Boston gespielt haben, wollte der GM uns dieses Erlebnis nicht vorenthalten.

• Weitere Begriffserklärungen findest Du dort: [LINK].

POSTED BY SNOWCAT:

Kennt ihr das, wenn ein Ereignis eure Gedankenwelt und eure Gefühle bis auf die Grundfesten erschüttert? Wenn es euch aus der Bahn zu werfen droht? Ihr nicht mehr wisst, was wahr ist und was Illusion? Wenn Gedanken, Wirbelstürmen gleich, durch euren Kopf kreisen und verhindern, dass ihr sie fassen, zu Ende denken oder auch nur ansatzweise in geordnete Bahnen lenken könnt?

So erging es mir nach den Ereignissen, die am Abend unseres 134. Tags im Boston Lockdown und nach meinem insgesamt 76. Run, geschahen.

Doch bevor ich euch von diesen - für mich - epochalen Events berichte, erzähle ich da weiter, wo ich beim letzten Mal aufgehört habe.

Immerhin beinhaltete dieser Run das letzte Stück Information über die Dinge, die letztendlich zum Boston Lockdown führten, und die Information selbst hatte es genau genommen ziemlich in sich. 

Kehren wir also zum vorerst letzte Male zurück in die von jeglicher Zivilisation verlassene MCZ.

Ach ja, wer lieber nicht wissen möchte, wer oder was zum Lockdown führte, der sollte sich jetzt verabschieden. 

Immerhin kann Wissen durchaus sehr gefährlich sein.

❄️❄️❄️

Ganz kurz bevor ich in meiner Drakegestalt und die Adler AveRage und Liam auf dem Dach bei unseren Chummern Shark Finn, Mr. Tea, Phoenix, Kariwase und Sinister gelandet waren, endete die Wirkung der magischen Preparation, die die Gestalt von Dr. Gaiden Alcoval gewandelt hatte. Die Schildkröte wurde wieder zu einem Menschen. Der nackte Wissenschaftler hatte eine Kartoffel im Mund und ein Stück Panzertape klebte über Mund, Nase und Stirn. Eine reine Vorsichtsmaßnahme auf Wunsch von AveRage, damit der spitze Schnabel der Schildkröte uns nicht beißen konnte. 

Ich nahm meine wunderschöne elfische Gestalt an und bat im Anschluss Leprechaun7 Colm, unsere Verschleierung aufzuheben.

Da der Doktor noch bewusstlos war, zappelte er nicht und biss sowieso niemanden, als Finn ihn aus dem Netz befreite, in dem ich ihn getragen hatte. Unsere metamenschliche Beute bekam einen Papieranzug an-, eine Panzerweste übergezogen und im Anschluss eine Magiermaske aufgesetzt. 

Nachdem die Zauber auf Liam und AveRage ebenfalls ihre Wirkung beendet hatten, setzte sich unser kleiner Trupp in Bewegung. Wir hielten direkt auf das Labor zu, in dem vor mehr als vier Monaten der Lockdown seinen Anfang genommen hatte.  

Es war ein ganzes Stück weit zu gehen. 

Als AveRage sich über den Fußmarsch beschwerte, lächelte ich.

❄️

Der Campus war voller Leben. Jugendliche standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich interessiert über das Tagesgeschehen. Hinten rechts alberten ein paar männliche Studenten herum und jagten sich durch die Reihen. Hier war ziemlich viel los, sicher würde gleich eine große Abendveranstaltung beginnen.

[Song 1: Henry Jackman/ Captain America, The Winter Soldier - The Winter Soldier3] Sah man nur einen Moment genauer hin, zerfaserte die Illusion, die einem das eigene Gehirn vormachen wollte. 

Die Jugendlichen waren abgemagert und verdreckt. Ihre Münder waren blutverkrustet. Da alberte auch niemand herum, da drehten Rager ihrer hasserfüllten Runden. 

Leichen, teilweise bis auf das Skelett heruntergefressen, lagen am Boden. Bizarrerweise waren vom Fleisch oft nur Hände und Füße übrig geblieben. Füße, die noch in Schuhen steckten. Immer wieder entdeckten wir tote Ghoule. Wahrscheinlich hatten Shambler die Ghoule überrannt, noch während diese sich an anderen Shamblern gelabt hatten. Dann waren die Ghoule ihrerseits gefressen worden. So lief das hier im CFD-Dschungel. 

Die Shambler waren weder dem Rasen noch den Gebäuden von Harvard gut bekommen. Die ehemals grünen Flächen des Campus existierten nicht mehr. Sämtliche Fassaden waren angeknabbert und vielerorts völlig ruiniert. 

Tausende von CFD-Infizierten shambelten vor dem Gebäude herum. Eine gigantische Shambler-Front mit 120 Metern Umfang versammelte sich um ein Loch im Boden, aus dem der verwirrte, mit Naniten bedeckte Drache aus dem unterirdischen Labor ausgebrochen war. 

Ja, genau da wollten wir hin.

❄️

Es braucht einiges an Mut, der Verschleierung durch meinen Geist so weit zu vertrauen, dass man sich freiwillig durch eine Masse von Shamblern bewegt. 

Ruhigen Schrittes hielten wir auf das vierstöckige Gebäude zu. Zunächst schien es, als wären die Reihen der Shambler eine undurchdringliche Mauer aus Körpern, doch selbstverständlich gab es Lücken. Man sah sie eben erst, wenn man davor stand.

Sinister war durch und durch eine Elitesoldatin. Zielstrebig führte sie uns durch die Shambler. Mein Puls war beschleunigt. 

Immer wieder mussten wir so dicht an einigen CFD-Infizierten vorbei, dass nur wenige Zentimeter zwischen unseren und ihren Körpern lagen. Wir alle wussten, dass eine versehentliche Berührung eine Infektion nach sich ziehen konnte. Dieses Wissen verstärkte das grausige, unangenehme Gefühl, das in der MCZ unser ständiger Begleiter war. 

Unsere Commlinks und sämtliche Wireless-Funktionen unseres Equipments waren ausgeschaltet. Wir waren nur via Mindnet verbunden. 

‹Wie kommen wir jetzt rein?›, fragte Phoenix in einem völlig normalem Ton. Die hübsche, menschliche Frau hatte sich von dem Weg durch die Shambler nicht bange machen lassen.

‹Durchs Fenster im ersten Stock›, schlug Sinister vor.

Ich nickte.

Sinister trat zwei, drei Schritte zurück, sprang hoch und stieß sich mit zwei weiteren Schritten auf der Luft ab, ganz so, als wären dort unsichtbare Stufen. Sie landete locker auf dem Fenstersims. ‹Drinnen sind zwei Shambler›, sagte die schöne Elfe an. ‹Scheibe zerschlagen ist also nicht.›

‹Ich habe einen Glasschneider dabei›, erklärte ich, griff sogleich in meinen Rucksack, zog das Spezialwerkzeug hervor und warf es zu Sinister hoch, die es problemlos auffing.

Sie musste den Pöppel nur ansetzen, den Schneidezirkel drehen und schon hatte sie sauber ein Loch in die Scheibe gezaubert, durch das sie greifen, und so den Riegel des Fensters öffnen konnte.

Mr. Tea bot den Damen seine Hand zur Hilfe an.

Liam schüttelte den Kopf. ‹Wir drehen gar nicht, schwing einfach deinen Hintern hoch, Mr. Tea.›

Phoenix lehnte die Hilfe diesmal dankend ab. Sie brauchte zwar einen zweiten Anlauf, aber dann konnte sie zeigen, was sie von Sionn gelernt hatte.

Ich nahm die Hand von Mr. Tea hingegen, ließ mir auf den Sims helfen und verschwand dann zusammen mit Sinister im Raum. Leise schlichen wir an den beiden Shamblern vorbei, traten an dem Türrahmen, sahen uns an, nickten uns mit einem wundervollen Lächeln zu und blickten erst im Anschluss aneinander vorbei, um rechts und links in den Gang zu sehen. 

Mr. Tea sprang ansatzlos ans Fenster.

Liam griente böse. ‹Nun verschwindet mal alle vom Sims, damit der alte Mann auch hoch kann.›

‹Sollen wir dir ein Seil zuwerfen?›, fragte ich augenzwinkernd.

‹Nö, es wird wohl gerade noch so gehen. - Fahr dein Deck wieder hoch, Phoenix›, wies Liam an. ‹Dann haben wir wenigsten Zugang zur AR. Alles andere ruhig noch auslassen, bis wir unter der Erde sind.›

Die hübsche Deckerin reagierte sofort. 

‹Rechts runter zur Feuertür›, sagte Liam kurz darauf, nachdem Sinister und ich unsere Wahrnehmungen ins Mindnet projiziert hatten.

Zwei weitere CFDler shambelten in dieser Richtung im Gang vor sich hin. An ihnen vorbeizuschleichen, war kein Problem. Die anderen drei Runner folgten Sinister und mir. Gemeinsam standen wir dann vor dem Notausgang ins Treppenhaus.

Wir waren verschleiert, aber wenn wir die Tür öffneten, dann würden die Shambler das sehen.

‹Schade, dass wir keine Spielzeugmaus haben›, bemängelte ich. ‹Die könnten wir jetzt prima aufziehen und die Shambler damit weglocken.›

Liam verdrehte abermals die Augen. ‹Wirf doch einfach einen Stein.›

Ich schüttelte in einer bezaubernden Geste meinen hübschen Kopf.

‹Ah, du hast keinen Stein dabei›, stellte Liam fest.

‹Ich habe überhaupt nichts dabei, was ich zur Ablenkung werfen kann. Nichts von meinem Equipment ist etwas, was ich entbehren möchte.›  Immerhin hatte ich mein Zeug für zwei Runs gepackt. Beim ersten Run des Abends hatte ich ziemlich viel mit eigener Flügelkraft transportieren müssen, so hatte ich zu Hause gelassen, was ich nicht unbedingt dabeihaben wollte.

Liam sah in die Runde.

Niemand von uns hatte etwas dabei, was er werfen wollte.

‹Vielleicht ein Stuhlbein?›, schlug Mr. Tea vor.

Ich lächelte den Engländer an. ‹Sehr gut. Hier im Gang liegt nichts, aber gehst du bitte zurück und holt etwas was aus dem Raum, in dem wir gestartet sind?›

Mr. Tea tippte sich an den Bowler auf seinem Kopf. ‹Aber sehr gerne doch. Entschuldigt mich bitte kurz.›

Liam verdrehte erneut die Augen. Vielleicht sollte ich ihm mal Cyberaugen vorschlagen, die richtig rotieren können, dann wäre der Effekt größer. Aber nein, lieber nicht. Liam hatte wunderschöne grüne Augen, darum wäre es wirklich schade.

Nur einige Sekunden später kehrte Mr. Tea zu uns zurück. Er hatte zwar kein Stuhlbein, aber zwei Bücher mitgebracht. Ein weiteres altes, wertvolles Buch lugte unter seinem Revers hervor. Mr. Tea grinste verschmitzt. ‹Ich dachte, ein wenig geistige Nahrung könnte den Shamblern nicht schaden.›

Ich lachte perlend, ‹Da hast du sicher recht.›

Mr. Tea warf das Buch in den Gang.

Mit einem lauten Platsch schlug es an der von uns entfernten Ecke auf dem Boden auf. 

Die Shambler vor der Tür reagierten sofort und bewegten sich auf das Geräusch zu.

Wir öffneten unsere Tür und schlüpften hindurch.

❄️

Im Treppenhaus begegneten uns keine weiteren Shambler. Auch als wir durch den Gang in Richtung des unterirdischen Labors schlichen, war da niemand außer uns. Die Notbeleuchtung lief immer noch. Aber ansonsten gab es hier keinen Strom. 

Nach gut 30 Metern veränderte sich der Geruch. Der Gestank von geschmolzenem Plastik, Strom und jeder Menge Kupfer lag in der Luft. Wenn es nach Kupfer roch, war meist eine Menge Blut geflossen. Mr. Tea und ich merkten es zuerst, doch selbst die ‚normalen‘ Nasen konnten es bald riechen.

‹Was ist das?›, fragte Phoenix leise.

‹Ich nehme an, das sind die Folgen des Erwachens von Eliohann›, erklärte ich. ‹Der Drache dürfte wütend und verwirrt gewesen sein und Feueratem, Klauen und Schwanz eingesetzt haben.›

❄️

Die Tür zu den Überresten des Labors war verbogen und nicht ganz geschlossen. Tageslicht drang durch den Spalt. Nicht weiter verwunderlich, besaß das Labor jetzt doch ein offenes Dach. Ein Dach, an dessen Rand sich Hunderte von Shamblern tummelten. 

Ich schob diesen hässlichen Gedanken lieber schnell beiseite. 

Ich spürte nach Magie und Bewegung, doch bis auf die Shambler an der Oberfläche konnte ich nur uns entdecken.

Mr. Tea drückte die Tür mit all seiner eleganten Körperkraft auf, soweit es eben möglich war.

Vorsichtig und darauf bedacht, nirgendwo hängen zu bleiben, schoben wir uns durch den Spalt. Sinister machte den Anfang.

❄️

Rußgeschwärzte, verbrannte Wände stützen das riesige Labor mit einer Deckenhöhe von gut sechs Metern. In der Mitte, zwischen Geröll, sahen wir die Überreste eines etwa 35 Meter langen Gestells. Schwarze Schlacke-Überreste klebten an einer der Wände. Das waren ohne Zweifel metamenschliche Überbleibsel. Wir entdeckten Kratzspuren, die teilweise 20, 30 oder gar 40 Zentimeter tiefe Furchen in den Boden gezogen hatten. Die Beobachtungsstelle auf der rechten Seite hatte ursprünglich hinter Panzerglas gelegen, doch es war mit so viel Wucht dagegen geschlagen worden, dass die Scheibe zerborsten war. Die Metamenschen dort waren nicht verbrannt, sondern regelrecht zerschreddert worden. An der Wand gab es einen großen Blutfleck, der völlig ungewöhnlich aussah. Er wirkte, als hätten sich kleine Blutflecken zusammenbewegt und versucht, gemeinsam entgegen der Physik in Richtung eines Körpers zu fließen.

Phoenix deutete stumm darauf und sagte treffend: ‹Das ist total abgedreht und gruselig.›

Überall lag Schutt herum. Nicht ein einziges Gerät war auch nur ansatzweise intakt. Wenn der Server mit den Videos in diesem Raum gestanden hatte, dann war das Material für alle Zeit verloren. 

Ich warf einen kurzen Blick nach oben. Über den hellgrauen Herbsthimmel zogen ein paar dunkle Wolken. Shamblermassen warfen ihre Schatten in die zerstörten Überreste.

‹Weiter links gibt es noch eine Sicherheitszentrale›, sagte Liam an.

‹Dann gehen wir dahin›, entschied ich. ‹Es lohnt sich nicht, in diesem Labor noch nach irgendwas zu suchen. Es muss ja auch noch einen anderen Ort geben. Wäre Alcoval in diesem Labor gewesen, hätte er das nicht überlebt. Das da konnte keine Metamensch überleben.›

❄️

Wir verkeilten die Tür, nachdem wir uns wieder durch die Öffnung gedrückt hatten. Sollten wir hier unten irgendein Geräusch machen, konnte das Hunderte von Shamblern anlocken, die sich dann einfach ins Labor stürzen würden. Mit denen wollten wir es nicht zu tun bekommen.

Wir fanden die Sicherheitszentrale problemlos. Allerdings war die Tür intakt und mit einem Magschloss verriegelt. 

‹Dass der Strom nicht da ist, ist echt ein Problem›, stellte Liam fest.

Ich seufzte. ‹Wenn wir jetzt Tiernan dabei hätten …›

Liam sah mich an. ‹Was soll das? Musst du immer auf meinem Alter rumhacken? Wieso sollten wir Tiernan brauchen, um den Strom einzuschalten?›

‹Nein, natürlich nicht. Tiernan hat nur einen Zauber, der Batterien aufladen kann›, rechtfertigte ich mich grinsend.

Im übertriebenen Nörgelton erzählte Liam: ‹Dafür braucht man aber Batteri~en. Und wir brauchen Strom.› 

‹Ja, das Batterien nicht das gleiche sind wie Strom, ist mir auch gerade aufgefallen. Aber was soll das immer mit deinem Alter? Ich bin froh, dass du da bist. Sei du froh, dass du alt bist. Ich stehe schließlich auf alte Männer.›

Phoenix lachte süß. ‹Na, das Kompliment könnte man jetzt auch als Schlag ins Gesicht sehen.›

Liam begann damit, eine Verkleidung von der Wand abzuschrauben. ‹Wenn die Jüngeren unter uns inzwischen das Maglock mit ihrer Körperkraft öffnen könnten?›

Mr. Tea war eindeutig der stärkste unsere Gruppe.

Liam sah zu ihm: ‹Schlag einfach das Schloss raus. Oder kannst du das nicht?›

‹Doch das kann ich schon, aber nicht leise.› Mr. Tea sah nun zu mir.

Ich schüttelte den Kopf. ‹Einen Stillezauber kann ich nicht.›

Mr. Tea zuckte mit den Schultern. ‹Wenn wir jetzt Tiernan dabei hätten … ›, kommentiert er.

Wir lachten. ‹Schlag einfach zu!›, wies ich an. ‹Die Verschleierung sollte das Geräusch dämpfen, und wenn nicht, sind ja zum Glück keine Shambler in der Nähe.›

Mr. Tea nickte, ballte die Faust und schlug mit magischer Kraft gegen das Schloss, welches einfach durch die Wand schoss und an den dünnen Kabeln hängend in den Raum fiel.

Unterdessen hatte Liam einige Kabel neu verdrahtet. Das würde vielleicht nicht ewig halten, aber für den Augenblick erwachte die Sicherheitszentrale wieder zum Leben.

Phoenix machte sich sogleich daran, die Überwachungsvideos und andere Daten runter auf einige leere Commlinks zu laden. Nach einigen Sekunden fragte sie: ‹Ich habe hier das letzte Video, wollt ihr schon mal gucken, während ich weiter runterlade?›

Natürlich wollten wir. 

Wir setzten uns auf den Boden oder auf die Stühle der Sicherheitszentrale, schalteten unsere Commlinks ein und sahen, was Phoenix zu uns durchroutete.

(Anmerkung: der folgende Text enthält massive Spoiler auf die Ereignisse zum Boston Lockdown!)

❄️❄️❄️

[Song 2: Claire Wyndham - Kingdom Fall3] Im Beobachtungsraum hinter der Glasscheibe saß Majay vor einer Kontrollstation. Die Aufregung und Anspannung war ihm anzusehen.

Ich deutete gedanklich auf ihn. ‹Schaut mal, da ist Majay.›

‹Wer ist das?›, fragte Phoenix nach.

‹Ein Wissenschaftler und Knight of Rage, auf den wir schon mal vor ein paar Jahren getroffen sind›, erklärte ich. 

Majay war also am Abend des Ausbruchs zerschreddert worden, wurde mir, ein wenig traurig, bewusst.

In der Mitte des Labors lag der über 30 Meter lange Körper des erwachsenen Drachen Eliohann. Seine malachitgrünen Schuppen spiegelten die Beleuchtung des großen Labors wider und verpassten dem ganzen Raum einen hellen Grünstich.

Mehrere Ärzte oder Techniker liefen durch das Labor.

Der Drache war bewusstlos.

‹Der Drache ist tatsächlich Eliohann. Er befand sich bereits seit über einem Jahrzehnt im Koma. Zur Erinnerung: Das ist der Drache, der in den Fünfziger Jahren als erster Drache mit einem Datenbuchse berühmt geworden war. Genau durch diese Buchse hatte sein Bewusstsein während des Crash von '64 von seinem Körper getrennt werden können›, erzählte ich nicht ganz ohne Stolz. Immerhin war es von Anfang an meine Theorie gewesen, dass es um die Wiedervereinigung von Cerberus und Eliohann gegangen war. Dieses Experiment hätte das Koma und die Trennung von Körper und Geist beenden sollen. Jahrelange Forschung verschiedenster Konzerne, ganz besonders auch an den Gehirnen von Technomancern, hatte das Debakel CFD erschaffen und hätte im August dieses Jahres letztendlich doch noch etwas Gutes bewirken sollen.

Über dem Dachen befand sich ein Gestell, an dem acht gewaltige Tanks mit Nanitenflüssigkeit befestigt worden waren. Der Drache war an diverse Monitore angeschlossen.

An jedem seiner vier Gliedmaßen - die Flügel waren also ausgenommen - hatte man Schuppen chirurgisch entfernt, damit über einen medizinischen Zugang aus den Tanks über Rohre Naniten in den Körper gelassen werden konnten.

Majay hob den Daumen. Die Geste richtete sich an eine virtuelle Gestalt im Labor, bei der es sich zweifelsohne um Dr. Penelope Ann Xavier handelte. Pax war natürlich nicht persönlich vor Ort gewesen. War sie doch die einzige, die bereits zu jenem Zeitpunkt gewusst hatte, dass das Experiment nicht nach Plan verlaufen würde.

Pax gab Majay keine direkte Antwort, sie tippte nur auf einigen AR-Feldern herum. Sie schien nicht die Berechtigung für die letzte Befehlsfreigabe zu haben. 

Die lag nämlich bei einer anderen virtuellen Gestallt. Ein Mann im Nadelstreifenanzug eines Gangsters aus den 1930er Jahren, jedoch ohne Gesicht. Das war eine der Formen des E-Ghost oder auch der künstliche Intelligenz, die sich Cerberus nannte.

Der Avatar von Cerberus überprüfte die Biomonitor-Daten von Eliohann und gab sie offenbar direkt an jemanden anderen weiter, der nur über einen Bildschirm zugeschaltet war: Celedyr. Der Große Drache beobachtete das Experiment in seiner menschlichen Form, aus der Sicherheit seines Büros in den NeoNET-Türmen heraus.

Eliohanns Brust bewegte sich im gleichmäßigen Rhythmus der Beatmungsmaschinen auf und ab. „Beginnen sie mit der Codierung!“, lautete die Anweisung nun. 

Majay war wohl durch irgendetwas abgelenkt gewesen. Schließlich bemerkte er, dass alle Aufmerksamkeit auf ihm ruhte. „Was? - Entschuldigung, ich bin ... ähm ... ähm ... Entschuldigen Sie, Cerberus, Sir“, plapperte Majay erschrocken und aufgeschreckt durch die Aufmerksamkeit durch die AI.

„Sie können die Naniten nach Belieben kodieren und freigeben“, sagte eine weitere Stimme über Lautsprecher. Höchstwahrscheinlich war diese Anweisung direkt von Celedyr gekommen.

„Sofort. Ich mache es sofort“, stotterte Majay. „Entschuldigen Sie meine Ablenkung. Es wird nicht wieder vorkommen, Sir!“ 

Mit einer bemerkenswert einfachen Geste aktivierte Majay die Kodierung. Bewegung kam in die Nanobots in der ersten Containment-Einheit.

„Kodierung in fünf, vier, drei, zwei, eins. - Kodiersequenz abgeschlossen. Die Naniten sind kodiert und bereit für die Injektion“, verkündete Majay ein wenig heiser.

„Dr. Xavier, können wir weitermachen?“, knurre Cerberus.

Pax lächelte zufrieden. „Alles läuft perfekt nach Plan. Die Rituale befinden sich an ihrem Höhepunkt. Wir sind bereit “, antwortete Dr. Xavier in ihrem typischen Südstaaten-Flair.

„Mr. Creech, können wir fortfahren?“, fragte Cerberus nun.

Bei Mr. Creech würde es sich wohl um Aaron Creech handeln. Sein Namen war auf der Liste der Projektleiter aufgetaucht. Er gehörte zu Evo.

„Ich bin immer noch nicht glücklich, dass wir das hier vor dem Zeitplan tun, aber die Genehmigung wurde erteilt“, sagte der Zwerg. Auch er war nur über einen Bildschirm zugeschaltet. Natürlich sagte das nichts darüber aus, wo genau sich die Person befand. 

„Mr. Sandrakar, erwecken Sie meinen Bruder“, sprach der Avatar von Cerberus nun.

Mein Bruder, damit hatte Cerberus nun endgültig bestätigt, dass die AI oder eben der E-Ghost, wie immer man es bezeichnen mochte, tatsächlich zu Eliohann gehörte. 

Etwas in mir machte einen kleinen Freudensprung. Nun vermutete ich es nicht mehr. Ich wusste es!

Majay aktivierte weitere Protokolle. 

Ein irisierender Schleier floss nun durch die Rohre, bis die Naniten die Nadeln erreichten hatten und in den Drachen eindrangen. 

Jeder im Labor - und auch wir hier an unseren AR-Monitoren - warteten auf eine Reaktion.

Doch nichts geschah.

Im Labor konzentrierte sich nun jeder auf seine Arbeit. Vitalwerte wurden überwacht. 

Die Zufuhr war ungefähr zur Hälfte durch und das einzige, was bisher geschehen war, war eine Erhöhung der Herzfrequenz von Eliohann, wie das deutliche Piepen eines Biomonitors anzeigte. Als die Behälter zu drei Vierteln geleert waren, tat sich noch etwas mehr.

Herzfrequenz und Blutdruck stiegen an, Gehirnaktivität kam hinzu.  

Majay beugte sich eifrig nach vorne, um besser in das Labor sehen zu können. 

Der Drache begann zu zucken.

Majay verlangsamte offenbar den Fluss der Naniten. Seine Stirn kräuselte sich. Er kontrollierte sein AR-Display. Aufregung war in seinen Zügen abzulesen. 

Das Abbild einer virtuellen Gestalt formte sich via AR. Wirbel von Bits und Bytes wurden zu einem massiven Baum und zur Schönheit seines kristallinen Stammes.

‹Verdammt, das da ist der Avatar von Deus›, sagte ich ein wenig tonlos. Es hätte doch alles so schön sein können. 

In der Matrix würde nun die Hölle los sein. 

Etwas, nein, es waren gleich mehrere Wesen, sprangen auf die gesichtslose Person von Cerberus zu, doch bevor sie diese etwas hilflos wirkende Gestalt erreichten, verschob sie sich und wuchs zu einem wilden, dreiköpfigen Tier aus der griechischen Mythologie heran.

Majay stand nun Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Der Baum kämpfte gegen den dreiköpfigen Hund. Majay wollte helfen, er schien nur nicht sicher wie. Plötzlich stand die tatsächlich atemberaubend schöne virtuelle Gestalt von Dr. Xavier hinter Majay. Sie flüsterte ihm etwas zu.

Majay war geschockt, als der zusammenwachsende Baum mit einen Ast auspeitschte und die Frau zu Boden schlug. 

Cerberus befreite sich unterdessen von seinen gefallenen Gegnern und blinzelte in Richtung Majay.

„Entsperren Sie den Datacord!", heulte Cerberus. Er meinte wohl den Datacord, der an Eliohanns Datenbuchse angeschlossen war und eigentlich nur dazu diente, seine Gehirnströme im Biomonitor anzuzeigen.

„Das geht so nicht!“, rief Mayay. „Sein Gehirn ist kein Node!“

Cerberus schnappte mit seinem virtuellen Kiefer nach Majays AR-Display. Natürlich ging davon für Maday keine Gefahr aus, beängstigend war diese Geste dennoch. 

„Das ist mein Node, aber wenn Sie es nicht bald freischalten, wird er meinen Node übernehmen. Der Prozess läuft, aber etwas stimmt hier nicht. Jemand anderes versucht, in Eliohann zu kommen. Ich brauche Zugang. JETZT!"

Völliges Entsetzen und gleichzeitige Erkenntnis zeichneten sich auf Majays Gesicht ab. 

Ich fragte mich, ob er wohl gerade entschlüsselt hatte, wer das Experiment verraten hatte?

„Ich entsperre jetzt. Es tut mir so leid!“, entschuldigte sich Majay.

Cerberus bekam die Entschuldigung wahrscheinlich nicht mehr mit. Sein Avatar verschwand und zwängte sich durch die schmale Datenbuchse in Eliohanns Verstand. 

Der virtuelle Baum war immer noch zu sehen. Er peitschte und trommelte auf jetzt noch fünf Personas ein. 

Majay wandte seine Aufmerksamkeit wieder einem Bildschirm zu.

Im Labor rannten Techniker umher. Sie versuchen, die ausfallenden Vitalfunktionen des Drachen zu stabilisieren. 

Dann musste Majay entsetzt dabei zusehen, wie sich die ganze Szene in dem Moment änderte, als Eliohann erwachte.

Der Drache flatterte zuerst heftig mit den Flügeln und schlug die Techniker mit seinem breiten Schwanz zu Boden. Als der Drache versuchte, aufzustehen, stolperte er vom Tisch, wobei er zwei weitere Techniker durch seinem Mangel an Koordination gegen die Wand schleuderte. Der Drache hob die Hände und kratzte sich tief in sein schuppiges Gesicht.

Dann kamen die Flammen. Eliohann spuckte Feuer und versengte den Raum um sich herum. In einer sinnlosen Geste schlug er seinen eigenen Kopf ins Feuer. Der Wahnsinn steigerte sich weiter, der Drache warf seinen massiven Körper durch den Raum und durchbrach Wände. 

Vor Schreck hielt ich den Atem an. Eliohann tat mir so unendlich leid. 

Warnlampen begangen zu blinken. Container platzen.

Die aufgerissenen Tanks sprühten Naniten in den Raum und diese bildeten eine irisierende Wolke um den wütenden Drachen. Eliohann stürmte hoch und warf sich in das Fenster von Majays Beobachtungsraum. Spinnweben überzogen das Glas. Der Drache stolperte auf den Boden des Labors zurück. Weitere Risse bildeten sich an den anderen Wänden, und Staub drang in den schillernden Nebel ein.

Majay hatte den nächsten Aufprall des Drachen wahrscheinlich nicht sehen, sondern nur noch spüren können, als dieser sich verdrehte, um nach einem Ausweg zu suchen. Der Boden zitterte und rumpelte unter ihm, als der Drache an die Oberfläche brach und umliegende Mauerwerk zerstörte. 

Dann wurde das Bild schwarz14.

❄️❄️❄️

[Song 3: Hozier - Work Song3] Ich fühlte mich unglaublich traurig und leer. Eliohann so zu sehen, hatte mir beinahe schon körperlich weh getan. Auch Cerberus tat mir leid. Wie furchtbar musste es sein, auf diese Weise und so kurz vor dem Erfolg korrumpiert worden zu sein.

Whatever? - Wir hatten, was wir wollten. 

Schleichend kehrten wir zu den anderen zurück.

Auch auf dem weiteren Weg nach Snow Haven blieb ich schweigsam. Ich musste das Gesehene erst mal verarbeiten. Das Schicksal des Drachen ging mir zu Herzen. 

Natürlich wären die Folgen des missglückten Versuchs weniger schlimm gewesen, hätte man es außerhalb eines Sprawls durchgeführt. Doch welcher Drache dachte schon an Fehlschläge?

Doch schließlich lächelte ich.

Ja, wir hatten bekommen, was wir wollten. Nun war alles beisammen.

Heute Abend würden wir feiern und am nächsten Tag konnten wir uns dann endlich an die Planung unserer Abreise machen.

In mir keimte die winzige Hoffnung auf, vielleicht sogar doch noch bis Halloween Boston verlassen zu können.

❄️❄️❄️

Wenn mit jemand gesagt hätte, warum genau das möglich sein würde, ich hätte wohl hysterisch zu lachen begonnen.

❄️❄️❄️

Wir saßen in Tiernans Bar in Snowcat Manor beisammen und feierten ausgelassen. Ich hatte bereits zwei Whisky intus, als überraschenderweise eine Textnachricht auf meinem Commlink einschlug.

Ein finanzielles Angebot für die Exklusivrechte an sämtlichen Daten das Experiment betreffend. Woher in aller Welt wussten die das? 

Hmm? 

Boston war ein abgeschottetes System. Da sprachen sich Dinge, auch Dinge wie Extraktionen, vielleicht schneller rum. Es gab nicht viele Teams, die überhaupt zu solchen Runs fähig waren, und wer immer in die MCZ wollte, ging quasi zwangsläufig an diversen Knight-Errant-Mitarbeitern vorbei. Meine Comm-ID war nun mal genau die Nummer, auf der man mich erreichen konnte, um uns zu engagieren, also … .

Erstaunlich war nicht, dass Ares uns einen siebenstelligen Betrag bot, erstaunlich war, dass das Angebot eine Abreise aus Boston beinhaltete. Vielleicht würde ich ja doch verkaufen? Geld kann man immer gebrauchen - ich schmunzelte bei dem Gedanken - und eine sichere Abreise aus Boston, das wäre doch was. Ich hatte nicht gedacht, dass die Konzerne jemanden rausbringen konnten. Vielleicht würde es plötzlich sehr einfach werden, noch vor Halloween zu Hause und bei meinem Geliebten zu sein.

Natürlich nicht mit Ares. Ares würde aus den Daten nur eine Waffe machen. 

Aber wenn noch andere Angebote kämen …

Wenn Spinrad Industries dabei wäre ….

Wenn wir Spinrad Industries einfach fragen würde …

Kaum zu Ende gedacht, traf ein schriftliches Angebot von Shiawase ein, welches sogar noch ein wenig höher war.

Es folgte je ein Angebot von Lone Star und MCT. Die Preise variierten, waren aber zumindest immer siebenstellig und - sie alle würden uns rausbringen.

Ich blickte grinsend in die Runde.

„Was ist?“, fragte Liam nach. 

Ich bekomme hier gerade unmoralische Angebote von diversen Konzernen, die für die Exklusivrechte an den Daten bezahlen wollen und zudem meinen, sie könnten uns aus der QZ rausbringen. 

Es fiel mir nie sonderlich schwer, Aufmerksamkeit zu erregen, doch nun besaß ich sie von allen. Sämtliche Gespräche waren verstummt und alle Augen auf mich gerichtet. 

Ich zählte auf, wer uns bisher ein Angebot gemacht hatte, Summen nannte ich keine.

Natürlich war bei meinen Kollegen die gleiche Sorge zu finden, wie ich sie gehabt hatte, doch letztendlich überwog die Freude und die Aussicht auf Geld und darauf, wieder nach Hause zu kommen.

Dass Doc es gar nicht verwunderlich fand, dass man von unserer Datenbeschaffung wusste, half dabei.

„Von welchem Konzern würden wir das Angebot denn überhaupt annehmen?“, fragte ich, während ein poppiger Werbeclip mit einem guten Angebot von Horizon auf meinem Commlink einschlug.

Wir diskutierten das. 

Schließlich sollte es dem Willen des Teams nach kein Konzern sein, der mit dem Experiment und den dazugehörigen Projekten zu tun gehabt hatte. Außerdem fielen Konzerne aus, die Technomancer gejagt hatten.

Somit waren Ares, Aztechnology, Evo, Horizon, MCT und NeoNET raus.

Dann klingelte mein Commlink plötzlich. Sandellero rief an. Wir hatten hier in Boston bereits für ihn gearbeitet. Das würde dann wohl ein Angebot von Aztechnology werden. Obwohl der Konzern bereits auf unserer No-Liste stand, entfernte ich mich ein gutes Stück von den anderen und nahm das Gespräch an. Immerhin verlangte das die Höflichkeit.

❄️

Monobe International schickte das nächste schriftliche Angebot. Sie packten zu Geld und Ausreise sogar Konzernanteile drauf.

„Müssen wir jetzt befürchten, dass die kommen, um uns zu holen, wenn sie alle wissen, wer das war?“, fragte Phoenix berechtigterweise.

Doc schüttelte den Kopf. „Nein. Sie wissen, dass wir Runner sind. Jeder will die Daten haben, wenn sie auch unterschiedliche Dinge damit anstellen würden. Konzern wissen, dass uns die Daten abzukaufen der sicherste Weg ist, sie wirklich exklusiv zu bekommen. Vorsichtig werden wir natürlich dennoch sein.“

Die schöne Reporterin ließ sich von uns darüber aufklären, wie das mit Runnern und Auftraggebern und Konzernen so war, als ich erneut einen Anruf erhielt.

Der Identität des Absenders ließ mich eine meiner wohlgeschwungenen Augenbraue heben.  Aaron Creech? Dann war der Mann also nicht bei dem Experiment getötet worden? Wusste er dann nicht selbst genug? Schon allein aus Neugier nahm ich ab.

Emotionslos unterbreitete mir Aaron das bisher höchste Angebot und - oh, ach ja - rausbringen konnte uns Evo selbstverständlich auch. Aaron war es eine Freude, einer Straßenlegende wie mir direkt gegenüberzutreten, und er gratulierte mir zu dieser Meisterleistung. Zumindest sagte er das. Als ich genauer hinsah, fiel mir auf, wie derangiert der Zwerg aussah. Sein Namensschild war zerbrochen, er hatte Blut am Kragen und immer, wenn ich ihm eine Frage stellte, mit der er nicht gerechnet hatte, blinzelte er ein paar mal, als wenn er für die Antwort Rücksprache halten musste. Es gab keinen Zweifel, Aaron Creech war mit CFD-infiziert.

❄️

Als nächstes traf das Angebot von Renraku bei mir ein. Sie boten die bisher zweithöchste Summe und standen nicht auf unserer No-Liste. Sie hatten gute Chancen, wenn, ja, wenn Spinrad nicht auch noch was für uns hatte.

Ein Mr. Lee von Wuxing rief wieder persönlich an. Sein Angebot konnte sich sehen lassen. Außerdem hatte er einen Gruß-Clip der Quints dabei, die darin mehrmals betonten, unsere größten Fans zu sein. Unsere Bauchschmerzen waren bei Wuxing kleiner als bei Renraku, also durfte sich Wuxing in die Liste der möglichen Kandidaten ganz weit oben einreihen. 

❄️

Schließlich rief Zoh Rothberg an. Ich schluckte, bat meine Kollegen und Freunde um Ruhe und nahm das Commlink-Gespräch dann an. Natürlich war zu erwarten gewesen, dass auch NeoNET und somit Celedyr sich ausrechnen konnten, dass wir es gewesen waren, die Dr. Alcoval entführt hatten. Schön war es dennoch nicht, nun mit ihr zu sprechen. Selbst, wenn NeoNET alle Informationen beisammen hatte, würden sie schon deshalb kaufen wollen, um zu verhindern, dass andere die Beweise auch nur zu sehen bekamen.

Zoh war angespannter und ruhiger als bei unserem letzten Gespräch. «Wir haben uns vorhin ja knapp verpasst!», eröffnete sie. 

Nein, zu wissen, dass ein Großer Drache wusste, dass man ihn bestohlen hatte, fühlte sich nicht gut an. 

«Mein Chef ist sehr beeindruckt von Ihnen», erklärte Zoh.

Ich schluckte schwer. Ein Teil von mir wollte dem Drachen verkaufen. Dennoch stand NeoNET nun mal auf der No-Liste. Außerdem würden sie nur vertuschen, dass sie für den Schlamassel verantwortlich waren. Also schlängelte ich mich charmant durch das Gespräch. Die Summe, die NeoNET bot, war erwartungsgemäß hoch. Dennoch ließ mich der Betrag husten. Das war sehr viel Geld. Andererseits waren wir viele. 11 Runner, 3 Anwärter und 1 Newbie würden wahrscheinlich mit aus Boston rauswollen, mich nicht mitgerechnet. So genommen relativierte sich der Betrag. Ich grinste innerlich, jedenfalls relativierte er sich ein bisschen.

Ich versprach Zoh Rothberg, mich zu melden, aber das würde ich bei allen tun. Auch eine Absage war eine Meldung.

❄️

Das Wissen, dass Celedyr von uns wusste, dämpfte unseren Enthusiasmus ein wenig. Eden machte das am meisten zu schaffen. 

„Was schützt uns denn vor dem Argwohn eines Drachen?“, fragte die SEAL.

„An einen anderen Drachen zu verkaufen?“, schlug ich vor. 

Wie aufs Stichwort erschien der Name ‚Hans Brackhaus‘ auf dem Display meines Commlinks.

Ich lächelte, entfernte mich und nahm den Call an.

❄️❄️❄️

Selbstverständlich war ich an dem Angebot von Saeder-Krupp aus Prinzip interessiert. Ich hatte mein Argument gegenüber Eden damals nicht umsonst vorgetragen. Aber eigentlich kam für mich persönlich Saeder Krupp nicht infrage. Lofwyr einmal zu treffen reizte mich nach wie vor, aber der goldene Drache war der Erzfeind von Johnny Spinrad. An S-K zu verkaufen wäre wie ein Schlag ins Gesicht von Johnny. 

Allerdings konnte ich da noch nicht ahnen, dass Lofwyr ein einzigartiges Angebot für mich haben würde. Wie - bei allen Drachen der Sechsten Welt - hätte ich das auch ahnen können? 

❄️❄️❄️

[Song 4: Johnny Cash - Aint No Grave3] Diese Inkarnation von Hans Brackhaus kannte ich bisher nicht. Kein schlechter Schachzug, wenn man bedenkt, dass der Zwerg, den ich vor ein paar Jahren getroffen hatte, nicht sonderlich freundlich gewesen war. 

Bei diesem Hans Brackhaus handelte es sich um einen menschlichen Mann Anfang 50, mit wässrig-grauen Augen und dunklem, meliertem Haar, das ihn distinguiert aussehen ließ. Sein Gesicht wirkte einen Hauch aristokratisch. Er trug einen sauberen, teueren und maßgeschnittenen Anzug und er lächelte, als er mich sah. 

Brackhaus begann mit charmantem Smalltalk. Charmanter, als ich es einem Mann mit diesem Namen zugetraut hätte. «Wie schön, dass wir einmal miteinander interagieren, auch wenn ich mir andere Umstände gewünscht hätte.»

Ich legte den Kopf leicht schief und lächelte in die Kamera des Commlinks. «Andere Umstände?»

Hans lächelte zurück. «Ich wäre Ihnen selbstverständlich gerne persönlich begegnet und nicht nur via Commlink. - Ich bin sicher Sie haben heute Abend schon einige Angebote bekommen und vielleicht ist unseres nicht das höchste.» 

Diskret wie alle zuvor teilte er mir die Summe schriftlich mit. 

Ich grinste beinahe. S-K hatte mir soeben das zweithöchste Angebot des Abends unterbreitet. 

Brackhaus räusperte sich. «Wie Sie ja wissen, sind wir ein hundertprozentig besitzer-geführtes Unternehmen …»

Das war jetzt der Wink gewesen, dass das Angebot direkt von Lofwyr kam. 

«… und ich freue, mich Ihnen sagen zu können, dass wir in der Lage sind, Ihnen einen einzigartigen Bonus anbieten zu können, den sonst niemand hat.»

«Jetzt haben Sie mich sehr neugierig gemacht», erklärte ich schnurrend.

Eine Videodatei tauchte in meinem AR-Sichtfeld auf. 

Ich öffnete sie. 

Meine Körperhaltung änderte sich. Ich wurde ernst. Dass mir nicht völlig das Gesicht entglitt, lag einzig und allein an meiner Selbstbeherrschung.

Ich bekam drei kurze Clips zu sehen. 

❄️❄️❄️

-Ein Team bei einem Einsatz. Vielleicht in Dubai?

-Das gleiche gut ausgestattete Team steigt in ein Flugzeug, ein Elf mit schwarzen Haaren, ist ebenfalls zu sehen. Bei dem Elfen handelte es sich mit ziemlicher Sicherheit um Scale, den Elfen und Drake, der zumindest was Blackops und Drake-Rekrutierung anging, als Lofwyrs rechte Hand bezeichnet werden darf.

-Wieder dasselbe Team bei der Nachbesprechung mit Scale. Im Hintergrund läuft eine deutsche Nachrichtensendung. 

❄️❄️❄️

Der letzte Clip sollte beweisen, dass er gestern in den ADL aufgenommen worden war.

Wo, war völlig egal. 

Optisch war das gut gemacht, da gab es keinen Zweifel.

Alle drei Clips hatten eines gemeinsam: Sie zeigten einen schwarzen Zwerg mit weißem Haar und weißem Bart.

«Was bedeutet in diesem Fall 'den Bonus anbieten'?», fragte ich ruhig und war froh, dass ich überhaupt ein Wort herausbrachte.

Brackhaus lächelte. «Der Bonus wird Ihnen mit dem Geld übergeben.»

Übergeben, als wäre er ein Gegenstand. Aber wer das dort auch immer war, es war ein lebendiges Wesen. 

Meine Gedanken rasten, drehten sich, wirbelten umher, verflochten sich und wollten nicht klar zu Ende gedacht werden. 

Das konnte eine Fälschung sein… das musste vielmehr eine Fälschung sein … Lofwyr würde mir nichts versprechen, was nicht wahr war … aber es konnte nicht wahr sein … es musste doch wahr sein … jeder Schwindel würde auffliegen … also warum einen Schwindel vorschlagen? … um mich zu kriegen? … nein, dazu wäre das nicht nötig … um die Daten in jedem Fall zu kriegen … ja! … doch wenn es ein Fake war, dann gäbe es einen Angriff … das konnten wir packen … dann bekäme er die Daten nie … also war es wahr … aber wie ? … wir hatten seinen Körper geborgen … oder war es ein Klon? …  ich hatte seiner Beisetzung beigewohnt … natürlich war es möglich … aber wozu der Aufwand … der Leichnam hätte doch einfach weg sein können … damit ihn niemand suchte … drei Tage waren vergangen, da konnte viel geschehen …. aber auch ein Klon? …

«Verstehe. Kann ich Sie in 10 vielleicht 15 Minuten auf dieser ID zurückrufen?», fragte ich.

«Aber selbstverständlich!», lautete die simple Antwort.

Ich beendete die Verbindung.

Alle sahen mich erwartungsvoll an, als ich mich der großen Sitzgruppe in der Bar näherte. Sie hatten maximal meinen Part hören können, doch ich hatte von ‚in 10 Minuten‘ gesprochen. Es war klar, dass bei diesem Gespräch etwas anders gewesen war.

„Das war ein Angebot von S-K“, erklärte ich kurz angebunden. „Liam, kann ich dich mal eben unter vier Augen sprechen?“

Liam erhob sich sofort.

Wir gingen vor die Tür, schlossen diese hinter uns und entfernten uns ein Stück.

❄️

„S-K bietet mir einen Bonus an. Sie sagen, Blackstone lebt noch und ich kann ihn haben, wenn ich an sie verkaufe“, fasste ich das Angebot zusammen.

„Das ist dann aber ein Fake!“, konterte Liam trocken.

Die Einzelheiten der kurzen Besprechung lasse ich mal aus. Im Wesentlichen brachte Liam die gleichen Argumente dar, die mir auch schon im Kopf herumgesprungen waren. Ich widersprach mit den Worten, mit denen ich mir gedanklich auch schon selbst widersprochen hatte. 

Liam schlug Optionen vor, die letztendlich aber alle an der Situation in Boston scheiterten.

Liam sah mir in die Augen und er wusste, dass ich schon längst entscheiden hatte. Ich wollte den Deal. 

Ich wollte es wissen! 

Er verstand warum. „Lass uns zu den anderen zurückgehen!“, meinte er dann.

❄️

„Ihr habt gar nicht gebrüllt!“, sagte Tiernan, als wir wieder in der Bar waren.

Ich lächelte kurz. „Nein, wir haben ja auch nicht gestritten.“

„Schade, man konnte nämlich nichts hören.“

Ich erklärte den anderen, worum es ging. Die meisten kannten Blackstone nicht einmal. Die, die ihn kannten, konnten es kaum glauben. 

Sinister wollte lieber an Wuxing verkaufen, legte aber kein Veto ein. 

Für Mr. Tea war es hingegen keine Frage, nur die Chance auf Blackstone bedeutete schon, dass er den Deal annehmen wollte. 

Doc hielt es für möglich. 

Als wir das ‚Wie‘ und ‚Warum‘ anschnitten, stellte Dawante ziemlich kluge Fragen, die ich von ihm nicht erwartet hätte. 

Ich lobte ihn dafür, woraufhin er grinste und die Arme in der Hoffnung ausbreitete, er würde eine Umarmung zur Belohnung bekommen.

Eden machte sich Gedanken darüber, wie gefährlich unser Wissen eigentlich war, doch natürlich würde sie meiner Entscheidung folgen.

Phoenix meinte schließlich: „Ist doch klar, das wir da nachsehen müssen, ob das euer alter Freund ist!“

Da bereits 14 Minuten seit meinem Auflegen vergangen waren, nahm ich das als Schlusswort und entschied endgültig, den S-K-Deal anzunehmen.

Nicht, dass die UCler oder ihre Anwärter dabei wirklich mitzureden gehabt hätten. Es war eben gut, den Schein der Demokratie zu wahren. Außerdem hatte ich für alle Argumente immer ein offenes Ohr und ließ mich sogar von ihnen beeinflussen.

Noch bevor mein privater Countdown abgelaufen war, rief ich zurück und nahm den Saeder-Krupp-Deal an. 

Alles war von S-K-Seite soweit vorbereitet, dass sie uns schon am nächsten Nachmittag abholen wollten. Mit zwei Einschränkungen: Jeder würde sich mit seinem Gepäck beschränken müssen und niemand dürfe mit CFD infiziert sein. Vorsichtshalber hatte ich darauf hingewiesen, dass er damit Boston-CFD meinte.

Brackhaus brauchte nur noch die Information, wie viele Personen wir waren.

Ich sagte zu, sie ihm innerhalb der nächsten Stunde zukommen zu lassen.

Ich konnte es immer noch nicht fassen.

❄️❄️❄️

Dass ich in den folgenden Stunden kein Auge zu machte, muss ich wohl nicht betonen. Es gab noch einiges zu tun, wie alle anderen Angebote abzulehnen, zu packen, sich zu verabschieden und zu planen, was wir zu unserer Sicherheit tun konnten.

Doch selbst wenn Zeit für Ruhe war, fand ich sie nicht. 

Ich tigerte umher, blieb ständig in Bewegung, als wenn die Bewegung meine rotierenden Gedanken erträglicher gemacht hätte.

Versteht mich nicht falsch, ich hatte keine Angst oder etwas in der Art. Ich war einfach von einer ruhelosen Energie erfüllt. Da war die Vorfreude darauf, den Lockdown zu verlassen, gekoppelt mit all den Fragen, die sich so aufgetan hatten. Ich war enthusiastisch, nervös, leidenschaftlich, erschüttert und über alle Maßen verwirrt. 

Natürlich ging es viel um das ‚Ob‘, ‚Wie‘ und ‚Warum‘. Doch es stellten sich mir auch andere Fragen. Was es für die Zukunft bedeutete zum Beispiel, und warum sich Blackstone nie bemerkbar gemacht hatte. War er verhört worden? Wusste Lofwyr jetzt alles über UC, über mich, was Blackstone gewusst hatte? Brackhaus hatte erwähnt, dass sie niemanden mitnahmen, der mit CFD infiziert war, wenn sie nun doch feststellen konnten, dass AveRage von Naniten befallen war? Dann war da auch ein schlechtes Gewissen, nicht an Johnny Spinrad verkauft zu haben. Mir war klar, dass Johnny Verständnis haben würde, aber gefallen würde es ihm nicht.

Da ich sowieso keine Ruhe fand, konnte ich auch noch einen zusätzlichen Chip mit persönlichen Analysen und Anmerkungen anfertigen. Ich kämpfte einen Moment mit meinem Ego, um das Ganze nicht auf Deutsch zu verfassen, rang mich aber durch, es bei einem englischen Text zu belassen. 

Ich beschrieb die Auswirkungen von CFD, wobei es sich größtenteils um einer Zusammenfassung des Textes handelte, den ich für Ehran gefertigt hatte. Außerdem verfasste ich Anmerkungen zu den Ritualorten. Ich beschrieb und zeichnete Dinge, die man nicht auf auf unseren Aufnahmen sehen konnte, verkniff mir aber eine all zu tiefgehende arkane Analyse. Dann legte ich in präzisen Einzelheiten dar, dass Pax das Experiment korrumpiert hatte und erklärte, dass wir Pax inzwischen getötet hatten. Deus erwähnte ich ebenfalls. Ich hinterlegte Beweise für meine Behauptungen, sofern wir sie besaßen. Ich erwähnte Cereus und kam dann endlich zu den Evo-Docks, dem Hivemind und dazu, dass Aaron Creech mit ziemlicher Sicherheit ebenfalls mit CFD infiziert war. Ich legte sogar unsere Vermutungen diesbezüglich dar. Wenn jemand ein Auge auf solche Gefahren werfen konnte, dann ein Megakon. Ob er das tat, stand in einer anderen Datei geschrieben, aber ich wollte es wenigstens jemanden gesagt haben. 

❄️❄️

Dave, Tango, Dana, Kariwase, seine Tiere und die Five-by-Five würden nicht mit uns kommen. Sie blieben in Boston, um in Snow Haven alles am Laufen zu halten. Das hatte sie bereits in den letzten Wochen so beschlossen.

Dave und Tango - für die beiden war ich ursprünglich nach Boston gekommen. 

„Danke für meine Rettung!“, erklärte Dave ernst. 

Meine Augen wurden feucht. 

Natürlich würden wir versuchen in Kontakt zu bleiben, auch wenn das ohne die Hilfe der Resonanz schwer werden würde. Wir würden auf magische Methoden zurückgreifen müssen. Watcher konnten sich wenigstens nicht mit CFD infizieren. Und natürlich würde ich sofort nach Boston zurückkehren, um Dave oder Tango rauszuholen, sollten sie sich dazu entscheiden.

Es ist immer schwer, sich zu verabschieden. 

Doch alles im allem war ich zuversichtlich, sowohl Tango als auch Dave wiederzusehen.

❄️❄️

[Song 5: Dave Not Dave - Cold Blood3] 16 Personen, bewaffnet, gerüstet, mitsamt Gepäck und einem Gefangenen - Dr. Alcoval gehörte immerhin mit zu dem Deal - standen letztendlich irgendwo in den ländlichen Gefilden der NEMAQZ beisammen und sahen den beiden unmarkierten, schwarzen Hubschraubern zu, die in ihrer Nähe landeten.

Natürlich war ich aufgeregt und natürlich ließ ich mir das nicht anmerken. Obwohl ich meinen dunkelblauen Catsuit trug und bewaffnet war, hatte ich mir nicht den Luxus nehmen lassen, mein knielanges, eisweißes Haar offen zu tragen. 

Aus einem der Hubschrauber stiegen vier Personen aus, ein Ork und drei Menschen in leichten Militärpanzerungen. Es folgte ein Elf im Anzug der Marke RhineGold, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, schulterlangen schwarzen Haaren und einem abfälligen, arroganten Gesichtsausdruck. Das war zweifelsohne Scale, ein Mann, den ich eigentlich schon lange einmal hatte kennenlernen wollen.

Last but not least hüpfte ein Zwerg aus dem Hubschrauber. Ein Zwerg im Anzug, mit Kunsthaut so schwarz wie Ebenholz, mit weißem, kurz-geschnittenem Haar und einem ebenfalls weißen, wohlgestutzten Bart. 

Es sah schon mal aus wie Blackstone.

Der Zwerg blieb bei den anderen stehen und sah zu dem Elf.

Scale sah kurz und extrem abfällig zurück und meinte: „Worauf wartest du, Wurmfortsatz? Geh schon rüber.“

Der Zwerg nickte und setzte sich in Bewegung.

Je näher er kam, desto breiter wurde sein Grinsen. 

Ich nahm astral war. Die schwarzen Flecken, die für die eingebaute Cyberware standen, waren nicht mehr identisch, seine Emotionen zeugten von echter Vorfreude und ein wenig Anspannung. Es war mir gelungen die Maskierung seiner Aura zu brechen. Nun war der schwarze Drake eindeutig zu sehen. Seine magische Macht war gewachsen. Insgesamt war das alles nicht unerklärlich, sondern eher zu erwarten gewesen. Soweit ich das auf diese Art sagen konnte, war das die Aura von Blackstone. Was man selbstverständlich auch faken konnte, wie ich nur allzu gut wusste.

Ich hob zart die Hand, damit der Zwerg nicht zu dicht an mich heran trat. Nachher schoss ihn noch einer von uns über den Haufen, weil er mir zu nahe kam.

Der Zwerg blieb stehen und grüßte der Reihe nach die, die Blackstone gekannt hatte. „Mr. Jack, Doc, Tiernan, Shark Finn, Oheim.“ Dann sah er zu mir. „Hallo, Snowcat, schön dich wiederzusehen.“

Das war Blackstones Stimme, sein Ton war ein bisschen freundlicher, als ich ihn in Erinnerung hatte, aber das konnte auch von der Freude kommen, mich wieder zu sehen. Außerdem hatte er Mr. Tea Mr. Jack genannt.

„Ich freue mich auch sehr, dich wiederzusehen“, sagte ich strahlend lächelnd. Ich hatte Herzklopfen vor … Aufregung? Vorfreude? Spannung? Wahrscheinlich irgendwas dazwischen und das alles zusammen. „Doch bevor ich dich umarme, muss ich dir eine Sicherheitsfrage stellen.“

„Na klar, leg los!“

„Als wir, Craven und ich, dich damals zum ersten Mal zu Hause besucht haben, was haben wir da als erstes gemacht?“

Der Zwerg überlegte einen Moment. „Boah, das ist lange her.“ Dann begann er plötzlich zu lächeln, ganz genau so, wie man es tut, wenn man sich an etwas Schönes erinnert. „Ihr seid in mein Badezimmer gegangen und habt gebadet. Ihr seid über 2 Stunden nicht rausgekommen.“

Ich lächelte glücklich. „Ja, genauso ist es gewesen.“ Obwohl wir selbstverständlich nicht nur gebadet hatten, aber selbst wenn Blackstone das gewusst hätte, der echte Blackstone hätte es niemals erwähnt.

Ich beugte mich zu ihm runter, um ihn zu umarmen.

Fest, lang und ausgiebig. Und Blackstone umarmte zurück.

Heute war der 22.10.2076 und unser 135. Tag im Boston Lockdown.

Heute würden wir den CFD-verseuchten Sprawl endlich verlassen, und ich würde mehr von hier mitnehmen, als ich jemals hatte ahnen können.

Verdammt, war das geil.


Ende der Geschichte. 

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Wir freuen uns, dass du uns während dieser Geschichte begleitest hast, danken dir für’s Lesen und verbleiben bis zum nächsten Mal:

Snowcat und die Runner von UC.

An dieser Stelle bedanken sich die Spieler unserer Runde bei allen, die an der Entwicklung und Verarbeitung der Shadowrun®-Produkte mitgewirkt haben. Ohne ihre Arbeit wäre unser Spiel nicht möglich! 

We would like to thank the authors, artists and all others who are involved in the development of the Shadowrun® rules, adventures and stories. Without them, our game would not be possible.

Vielen Dank auch an @Vin für das Korrekturlesen. ;*

*reckundstrekgenüsslich* Hoffe Ihr habt Spass; *knutschi*