Teil 4

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4

Es war genau 19 Minuten vor Mitternacht. Bloody Mary verband Girl die Augen mit einem schwarzen Seidentuch auf dem ein grünes Ancient Symbol leuchtete. Blackheart schwang sich auf seine Harley und tastend nahm Girl hinter ihm Platz. Als er sich bewegte glaubte sie sogar kurz ihn dennoch zu sehen, aber wahrscheinlich hatte sie sich das nur eingebildet. Die Motoren knatterten los und kurz darauf setzte sich der Zug aus 12 Ancients und einem Anwärter auf acht Motorrädern in Bewegung. Sie spürte den Fahrtwind, der ihr Gesicht umspielte, sie roch Benzin, das Leder von Blackhearts Duster, und sie fühlte die Muskeln darunter. Girl hatte keine Angst, so würde es bald immer sein oder… es würde einfach gar nicht mehr sein!

Kurz darauf drang lauter werdende Musik an ihr Ohr. Der wilde, kräftige Rhythmus erfasste sie, vermischte sich mit dem Stakkato des Motors und erfüllte sie mit einer unglaublichen Vitalität. Es roch nach Feuer, aber es schien kein Plastikmüll zu sein, der da verbrannte. Es roch angenehm und würzig. Die Fahrt wurde langsamer, Ketten rasselten und Stimmen johlten. Dann hielten sie an. Nightmare kam zu ihr herüber, obwohl sie ihn über die laute Musik hinweg nicht hören konnte, spürte sie irgendwie, dass er sich näherte. Fast zärtlich nahm er ihr die Augenbinde ab. 

Als erstes erblickte sie einen gigantischen Kreis aus Feuertonnen. Im Schattenspiel davor standen unzählige Motorräder. Fast alle schmückten schwarz-grüne Wimpel. Metallene Spitzen waren an vielen Stellen angebracht worden. Die Bikes machten den Eindruck, als wären sie gerüstete Pferde, bereit in den Krieg zu ziehen. Im Inneren des Kreises waren zahlreiche Elfen versammelt. Nie in ihrem Leben hatte Girl so viele Elfen auf einmal gesehen. Es mussten weit über hundert sein. Sie waren in schwarzes Leder gekleidet, schwarz, unterbrochen von grünen Ornamenten und verziert mit Stacheln aus Chrom.

In der Mitte des Platzes schien es eine Erhöhung zu geben, auf der sich bisher niemand befand. Einige Elfen gingen noch zwischen den Motorrädern hin und her, doch langsam schienen sich alle in den Ring aus Feuer aufzumachen. Im Hintergrund, etwa 200 Meter entfernt konnte Girl die Silhouette eines Gebäudes ausmachen. Über dem Gebäude flackerte ein Ancients Symbol. Von ihm gingen Flammen aus, die etwas darunter in Schutt und Asche legten. Mehr konnte Girl nicht erkennen.

Ihr AR-Empfänger war immer noch defekt. Zum Glück kam die Musik nicht über AR, ein „Flackern“ wäre hierbei sicher unangenehm gewesen. Das ganze Gelände war mindestens 3m hoch umzäunt. Es gab Wachtürme, an denen Scheinwerfer befestigt waren. 

Eine weitere Gruppe Motorräder fuhr vor. Dann schlossen ein halbes Dutzend Ancients das Tor. Girl saß noch immer staunend auf der Harley. Blackheart legte ihr die Hand auf die Schulter: „Komm“, rief er über die Musik hinweg, „Es ist Zeit!“ Er führte sie in den Kreis aus Feuertonnen. Sie konnte erkennen, dass es Holz war, was in ihnen verbrannte, oder zumindest sah es wie Holz aus.

Sie traten bis an die erhöhte Fläche in der Mitte heran. Die anderen aus ihrer Gruppe, auch Bloody Mary und Nightmare, waren ihnen gefolgt und standen hinter ihnen. Abrupt verstummte die Musik, ein Gong schlug zwölf Mal. Nachdem der letzte Schlag verklungen war, stimmten die Ancients ein ohrenbetäubendes Geheul an.

Plötzlich, durch den Lärm getarnt, flogen zwei Motorräder über die Tonnen und landeten in der Mitte. Sting und Green Luzifer. Augenblicklich war es totenstill.

Beide stiegen ab. Green Lucifer hatte seinen schwarzen, am Saum silber-grün bestickten, Ledermantel an. Darunter trug er ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Lederhose. Dazu nietenbesetzte, fingerlose Handschuhe und schwere Motorradstiefel. Der schwarze Teil seine Haare war wieder geflochten. Auffällig waren die drei Nagelketten, die er sich über die Schultern geworfen hatte und ein leuchtendes, grünes Halstuch mit einem roten Ancient A. 

Sting hatte ihre Haare militärisch kurz geschnitten, sie leuchteten in einem phosphorisierenden grün, am Hinterkopf war ein blutrotes Ancients Symbol eingefärbt. Sie trug ein schwarzes Netztanktop unter dem der grüne BH deutlich zu sehen war. Eine schwarze Lederhose und schwere Stiefel mit Chromdornen, sowie ein Ledermantel vollendeten das Outfit. Der sonst schwarze Mantel hatte einen grünen Rücken, auf dem auf AR ein rotes Ancientzeichen pulsierte, er war ebenfalls dornenbesetzt. Girl fand, das Sting den BH nicht gebraucht hätte, um irgendwas zu halten. Sting war eher muskulös, als feminin gebaut. Doch war es auch nicht die Figur, oder die Kleidung, die auf sie Eindruck machte. Es war ihr Gesicht.

Die wohlgeformten Lippen waren purpurrot geschminkt. Stirn und Wangen wurden von einem filigranen schwarzen Muster auf grünem Grund verziert. Die Augen waren lila umrandet. Girl wusste nicht, ob das nur ein Effekt des Make Up war, oder ob es sich um die echte Augenfarbe handelte, denn Stings Augen waren Purpur. Sie wirkte geheimnisvoll,  gespenstisch, wild und kraftvoll. Eine Königin der Unterwelt!

Ein rhythmisches, schneller und lauter werdendes „Wow, wow, wow!“ erhobt sich aus hundert Kehlen, bis Sting die Hand hob. Bevor sie sprach, schien sie kurz Augenkontakt mit jemandem aus der Masse aufzunehmen, dann tönte ihre stimme laut und kraftvoll: „Ancients! Ein weiteres Jahr unserer Herrschaft ist vergangen und es ist wieder an der Zeit, neue Rekruten in unseren Reihen aufzunehmen. Damit wir MEHR werden!“ Die Menge jubelte.

„Doch ihr wisst, dass es nur den härtesten und besten Elfen vergönnt ist, einer von uns zu sein. Heute Nacht können eine Handvoll Anwärter beweisen, dass sie es Wert sind, ein Ancient zu sein. Einige werden ausziehen und noch weniger werden wiederkommen. Die es schaffen gehören dann zu uns. Zum Besten, was die Straßen der Stadt zu bieten haben! Zur Elite unserer Rasse!“ Wieder brachen die Elfen in Jubel aus.

„Lieutenants, wer von euch hat einen Elfen für uns, von dem er glaubt, er wäre bereit für das Rite Of Passage, von dem er glaubt, er hätte das Zeug zu einem Ancient?“ 

„Ich!“, erklang es aus ein paar Stimmen. 

„Tretet vor!“

Blackheart packte Girl an den Schultern und schob sie zum Podest. An anderer Stelle geschah das gleiche. Sieben Lieutenants stellten elf Anwärter vor. Girl wusste inzwischen, dass es das Ansehen eines Lieutenants steigern konnte, wenn er ein gutes Händchen bei der Wahl seiner Anwärter bewies, es konnte ihm aber auch schaden, wenn die von ihm vorgebrachten Anwärter Nieten waren.

Sting blickte die einzelnen Anwärter langsam von oben bis unten an, dann vollführte sie beidhändig eine Geste und sagte: „ Kommt zu mir!“ Nachdem alle auf das Podest gestiegen waren, fragte sie: „Seit ihr bereit, euer Rite Of Passage anzutreten?“ 

Alle antworteten mit: „Ja!“

Dann stellte sich Sting vor jeden einzelnen der Anwärter und fragte ihn noch einmal. Nachdem jeder auch diese Frage bejahte, wurden alle aufgefordert sämtliche Waffen und Ausrüstung vom Messer, über AR-Receiver oder Commlink, bis zum Feuerzeug bei einem Elfen abzugeben, der inzwischen ebenfalls das Podest betreten hatte.

Er war über 2m groß, vollkommen schwarz gekleidet und trug über dem linken Auge ein futuristisch aussehendes Monokel. Um sein rechtes Auge hatte er ein grünes Ancient Symbol tätowiert. Sein Name war Ghostfinger.

Girl besaß nicht besonders viel, was sie abgeben konnte. Sie legte ihr altes Commlink mit dem defekten AR-Receiver und 27 NuYen Guthaben, ein Mulifunktionsmesser mit abgebrochener Klinge, ein Einwegfeuerzeug und ein Stück Lavendelseife in den schwarzen Seesack, den Ghostfinger ihr entgegenhielt. Nur schweren Herzens trennte sie sich dann ebenfalls von Ticket, der Manhunter, in der jetzt noch drei Schuss waren.

Nach der Abgabe musste jeder Anwärter zur Leibesvisite bei Green Lucifer antreten. Noch waren sie keine Ancients und noch traute man ihnen nicht. Der First Lieutenant erledigte diese Aufgabe gewissenhaft und scheinbar völlig emotionslos.

Als auch diese Prozedur beendet war, ergriff Sting nochmals das Wort: „Anwärter! Wir werden euch nun in einiger Entfernung aussetzten. Wenn der Countdown läuft…“

Genau in diesem Moment erwachte ein riesiges Display hinter den Feuertonnen zum Leben.

25:00:00

„…habt ihr noch 25 Stunden Zeit zu diesem Ort zurückzukehren. Überschreitet ihr die Zeit um nur eine Sekunde, habt ihr es nicht geschafft! Doch ist der Countdown bei eurer Ankunft noch nicht abgelaufen, dann werden wir euch mit Freuden in unseren Reihen aufnehmen.“

Ein Scheinwerfer leuchtete auf und erhellte eine 2 Meter hohe Plattform etwas außerhalb des Kreises der Feuertonnen. Auf ihr thronte ein wunderschönes Motorrad. Girl wusste, dass es sich dabei um eine niegelnagelneue BMW Blitzen 2068x handelte. „Das dort“, Sting zeigte auf das Bike, „Ist der Preis, der demjenigen von euch gehört, der von seinem Rite die meisten Trophäen mitbringt.“

Nun machte Sting eine kleine Pause, in der vereinzeltes Gejohle zu hören war. Dann rief sie laut: „Ancients! – Seid ihr bereit?“

„Jaaaa!“

Sie hob die Hände in einer weit ausholenden Geste: „Dann lasst das Rite Of Passage beginnen!“ Der Countdown wurde gestartet. Es war genau Mitternacht. Ohrenbetäubender Lärm aus fast 200 Kehlen, begleitet vom Getrampel schwerer Stiefel, rasselnden Ketten und Schüssen aus automatischen Feuerwaffen, brandete los.

„Komm, Elvengirl“, sprach Blackheart Girl an: „Es ist Zeit für dich. Präg dir den Weg gut ein. Alles nützt dir nichts, wenn du am Ende den Weg nicht findest!“ Gassen bildeten sich. Motoren wurden gestartet. Blackheart führte sie zu seiner Harley. Das Tor wurde geöffnet. Ghostfinger trat zu ihnen heran und drückte Girl wortlos einen schmalen, 3cm breiten und flachen Gegenstand in die Hand. Dann nickte er Blackheart zu, der startete die Maschine und fuhr los.

Als sie durch das Tor gefahren waren, öffnete Girl die Hand und blickte hinein. Grüne Zahlen leuchteten sie an.

24:56:29

Sie fuhren in einer riesigen Gruppe von Motorrädern, Girl schätze, dass es ungefähr 60 waren, mit allen Anwärtern in Richtung Norden. Nach über einer viertel Stunde, sie hatten den Stadtteil Tarislar bereits verlassen, trennten sie sich in elf kleinere Gruppen auf und schwärmten aus. Schon bald konnte Girl die anderen Teams weder sehen noch hören.

Weiter und weiter fuhren sie, passierten Loveland und verließen schließlich sogar Puyallup. Irgendwo im südwestlichen Tacoma wurden sie in einer verlassenen Gegend langsamer und hielten endlich an.

24:05:37

Blackheart blickte über seine rechte Schulter: „So Kleine, wir sind da. Denk daran, dass auf der I5 die Spikes sind. Man munkelt gar, sie hätten irgendwo östlich ihr Hauptquartier. Natürlich wissen selbst die Winégs, dass Rite Of Passage Time ist. Lord Togo setzt immer ein besonders hohes Kopfgeld auf Anwärterohren aus. Is’ besser, wenn du keinem Troll zu Nahe kommst. Also, steig ab und los! Wir sehen uns zu Hause!“

Als Girl abstieg, fing sie den aufmunternden Blick von Bloody Mary auf. Sie hatte sich, zusammen mit Nightmare in den letzten Tagen alle Mühe gegeben Girl über die lokalen Gegebenheiten aufzuklären. Sie hatten mit ihr Straßenzüge, Stadtteile, Bars, Nightclubs, Gangterritorien und Zeichen gepaukt. Sie hatten ihr Orientierungspunkte beigebracht und ihr erklärt, wer Freund und wer Feind ist. Auch die Beiden hatten nicht gewusst, wo genau man sie aussetzten würde, aber sie hatten versucht ihre Überlebenschancen so weit wie möglich zu erhöhen.

Girl atmete tief durch und lächelte dann. Die Ancients setzten sich in Bewegung und waren bald darauf in Richtung Süden verschwunden. Girl verharrte noch einige Sekunden und blickte sich dann um, um sich zu orientieren.  Nochmals sog sie tief die Luft ein.

„Was meinst du Katze, wollen wir uns nach Osten aufmachen, um uns den Hauptpreis zu sichern?“ 

„Nach Osten geht’s die Strasse runter. - Ja Elfenmädchen, Zeit zum Spielen!“

24:03:15

Girl setzte sich in Bewegung und lief die Straße ostwärts hinunter. Intuitiv wusste sie, wo Osten war, mit solchen Dingen hatte sie noch nie Schwierigkeiten gehabt. Dabei versuchte sie, sich so leise wie möglich zu bewegen und nutzte die Deckung aus, die ihr die Häuser boten. Sie atmete gleichmäßig, um Kraft zu sparen. Regen setzte ein.

„Na Katze, was hast du erwartet? Schließlich sind wir hier in Seattle.“ 

„Grünen Regen, Elfenmädchen!“

Manchmal wechselte Girl die Strasse, um eine Gruppe von Leuten oder einen Nachtclub zu umgehen. Schließlich erreichte sie eine Straßenkreuzung, an der sich ein Stuffer Shack befand. Die blaue Leuchtreklame, war auf einer Seite aus ihrer Verankerung gerissen und baumelte nun halb schief umher. Die I5 überquerte die Szenerie. Girl betrat Feindesland. Hier sah man angeblich immer wieder Tacomas hässlichste Gang, die Spikes.

Sie setzte die Kapuze ihrer Jacke auf und ging nun, die Gegend im Auge behaltend, weiter. Sie wählte genau den Weg, vor dem man sie gewarnt hatte. Einen Weg, der sie direkt zu einem Hang Out der Spikes führte.

23:15:56

Girl betrat die Gasse hinter dem „Tuskpower“: Restaurant, Bar, Grill and Music hatte sie an der Vorderseite noch lesen können, mehr gab die Reklame ohne AR nicht her. Trostlos und düster wirkte es hier. Der Gestank von Müll vermischte sie mit dem Geruch von stark verbranntem Fleisch, Bier und Exkrementen. Sie schlich im Schatten einer Mülltonne zur Hintertür. Auf ihr war ein stilisierter Elfenkopf mit rot durchgekreuzten Augen gemalt worden. Bingo. Das Zeichen der Spikes. Die Tür lies sich nur von innen öffnen.

Girl kletterte auf den Müllcontainer und hangelte sich über die Feuerleiter bis zu einem halbhohen Fenster ohne Sims. Die obere Hälfte des Fensters war heruntergeklappt. Sie blickte in den unbeleuchteten Raum: ein Klo. Die Öffnung war nicht besonders breit, doch mehr als breit genug für eine zarte, geschickte Elfe wie Girl.

Sie schlängelte sich hindurch und ließ sich leise auf eine geöffnete Kloschüssel hinab. Eine riesige Kloschüssel. Nun ja, dachte sie, für riesige Ärsche braucht es halt riesige Kloschüsseln. Leider verursachten die auch riesigen Gestank.

Girl lauschte kurz. Gedämpfter Trash Rock klang herüber, soweit Trash Rock überhaupt gedämpft sein kann. Doch schien sich niemand in der direkten Umgebung aufzuhalten. Vorsichtig öffnete sie die Tür. 

Sie war offensichtlich auf der Seite für Jungs gelandet, wie ihr die drei großen, etwa in 1,5m Höhe angebrachten Pissbecken verrieten. Die Beleuchtung war spärlich, aber ausreichend. Sie kehrte in die Kabine zurück und verschloss die Tür. Dann kletterte sie wieder hinaus und hangelte sich zum Container zurück.

Schweren Herzens ließ sie sich nun in den Müll fallen und begann nach irgendetwas Brauchbarem zu suchen. Belohnt wurde sie für ihre Mühe nach einiger Zeit mit einem Kanister, in dem sich noch ein Rest Rohrreiniger befand und einem Stück Motorradkette. So bewaffnet kehrte sie ins Klo zurück.

„Na Katze, wenigstens müssen wir uns keine Sorgen mehr machen, dass mich mein Duft verrät!“ 

„Geduld und Tarnung sind das Geheimnis einer erfolgreichen Jagd, Elfenmädchen.“

22:29:41

Sie brauchte nicht sehr lange auszuharren und sie war auch nicht überrascht. Die plötzlich kurz laut werdende Musik hatte die Ankunft eines „Bedürftigen“ verraten. Girl vernahm das Geräusch von schweren Schritten, dann das Ratschen eines Reißverschlusses.

Ganz leise und überaus vorsichtig öffnete Girl die Verriegelung. Dann kletterte sie behände auf die wackelige Kabinentür. Hier balancierte sie kurz, um sich zu vergewissern, dass es nur einen Besucher gab. Ein Troll wendete ihr den Rücken zu und ging summend seinem Geschäft nach. Was für ein Glück, dass immer nur Mädchen zu zweit aufs Klo gehen. 

Sie zielte kurz und schüttete dann im hohen Bogen den Rohrreiniger über den Kopf des Trolls.

Zunächst geschah nicht viel, der Troll wischte sich nur etwas von der Stirn. Doch das Glück schien ihr holt, denn nach ein paar Sekunden schimpfte der Troll los: „Va’dammte Scheiße, wat zur Hölle brennt’n da uff einmal so?“

Sie nutze seine Verwirrung, sprang mit der Kette in der Hand auf seine Schultern, warf selbige um seinen Hals und zog.

So weit so gut. 

Allerdings hatte sie es hier mit einem Troll zu tun! Sie zog so kräftig sie konnte und stemmte sich in einer akrobatischen Aktion mit den Beinen an seinen Schultern ab, doch erreichte sie damit… überhaupt nichts!

Nachdem der Troll sich von seiner Verwirrung erholt hatte, schüttelte er sich ein bisschen, als wolle er eine Fliege vertreiben, dann hob er die Arme und packte Girl fest an den Schenkeln. 

Ein Schmerz durchfuhr sie. Sie versuchte sich loszureißen, hatte aber das Gefühl, fest eingeklemmt zu sein. Mit aller Kraft versuchte sie zu einem Sprung an zu setzten. Doch sie bekam nicht mal ein Bein völlig frei. 

Nun beugte sie sich vor und stach ihm zwei Finger so fest sie konnte ins Auge. Der Troll grunzte auf. Er ließ kurz los, um nach ihrer Hand zu packen und stolperte über seine runtergelassene Hose.

Er taumelte nach hinten und stieß fallend die Kabinentür auf. Im letzten Augenblick sprang Girl ab. Dann schlug der Troll krachend auf die Kloschlüssel, zerschmetterte sie und blieb bewusstlos liegen.

Das Blut in ihren Ohren rauschte. Girl hoffte inständig, dass die Musik laut genug gewesen war, um den Krach zu übertönen.

Schnell aber vorsichtig, trat sie an den Troll heran. Eine kleine Blutlache bildete sich unter seinem Kopf, aber er atmete noch.

Seiner Kleidung nach zu urteilen handelte es sich tatsächlich um einen Spike. Ein goldenes Bandana zierte seinen Oberarm. Girl nahm es an sich. Flüchtig durchsuchte sie die Taschen des Trolls. Sie fand ein Feuerzeug und ein abgegriffenes Commlink. Außerdem trug er am Unterarm ein Messer. Hastig nahm sie diese Gegenstände an sich und kletterte ins Freie.

„Jippiayjey Katze“, rief sie: „Das war Klasse! Wir haben ein verdammtes Bandana von einem dreckigen Spike!“ 

„Ja, es war ganz gut, Elfenmädchen. Ich denke allerdings, du hättest ihm noch mit seinem Messer ein Ancients Symbol in die Stirn ritzen sollen.“

Lachend lief Girl los: „Ja Katze, das nächste Mal mach ich das!“

22:08:14

Girl wollte an der Hauptstraße schon nach Süden abbiegen, als ihr Blick auf den Platz vor dem Tuskpower fiel. Dort standen neben einem Truck und einem Van auch ein paar schwere Motorräder.

Sie griff nach dem Commlink in ihrer Hosentasche. Vielleicht hatte sie ja Glück.

Sie suchte auf dem Display nach einem passenden Symbol und wurde fündig. Sie tippe drauf und …tatsächlich blinkte eines der Motorräder auf. 

Sie duckte sich und schlich zum Parkplatz hinüber. Sie betrachte das verzierte, schwere Motorrad. Was für ein Fang! Sie kletterte hinauf und entdeckte dabei eine abgesägte, geladene Schrottflinte, die in einer angebrachten Halterung steckte.

Girl strahlte, sie hatte nicht nur sein Bandana, jetzt klaute sie ihm auch noch sein hässliches Motorrad.

Mit dem Commlink übersandte sie den Code an das Bike. Der Motor knatterte los. Girl schob es mit den Beinen an. Das klobige, für einen Troll angepasste Ding ließ sich nur schwer bewegen. Aber schließlich schaffte sie es, das Teil in die richtige Richtung zu manövrieren. Etwas wackelig und unsicher, aber nicht mehr zu Fuß, brauste sie in Richtung Tarislar die Strasse hinunter.

22:03:28

Girl hielt sich abseits der Hauptstraßen, aber so, dass sie die I5 nicht aus den Augen verlor. Schließlich war die Interstate der direkteste Weg nach Puyallup, bevor die Straße in Richtung Fort Lewis abknickte. Sie vermochte der schweren, unhandlichen Maschine zwar keine Höchst-geschwindigkeiten zu entreißen, aber besser als Laufen war es allemal.

Es geschah kurz nachdem sie die Bezirksgrenze überquert hatte, sie stellte sich gerade vor, wie es wäre ausgerechnet auf einem Spike-Bike bei den Ancients einzufahren, als die Maschine seltsame Geräusche von sich gab, hoppelte und mit einem „Böpböpboöp“ ausging. Girl versuchte sie erneut zu starten, doch es funktionierte nicht. Das Commlink gab ihr darüber Auskunft, dass das Benzin alle war.

„Fuck Winég!“, fluchte sie laut in die Nacht hinein. Sie hatte das Malheur nicht bemerken können, da sie sich das Display nicht auf AR hatte einblenden lassen können. Weder der Handschuh des Trolls, noch die Brille hätten ihr gepasst. Na bravo, sie musste genau an den einzigen bescheuerten mórkhan von einem Spike gelangen, der nicht in der Lage war, sein Bike ausreichend zu betanken.

Nun, sie konnte es nicht ändern. Sie stieg ab, und nahm die abgesägte, doppelläufige Schrotflinte an sich. Leider konnte sie keine Ersatzmuni finden, wahrscheinlich hatte der Trog sie bei sich getragen. Sie zuckte mit den Schultern. Besser ausgerüstet als zu Beginn war sie jetzt immer noch.

Vor ein paar Monaten war sie weiter zu Fuß gegangen. Außerdem blieb ihr noch das Bandana.

Trophäen: Eine! „Li’li’llah!“

21:44:03

Girl orientierte sich einfach südlich. Sie hatte Tacoma nur ein wenig östlich von der Stelle verlassen, an der die I5 nach Fort Lewis abbog. Ging man von hier aus gerade nach Süden, gelangte man nach Tarislar. Sie begann wieder mit einem leichten Laufschritt, denn sie wollte die Entfernung zwischen sich und der Interstate auf der die Spike so gerne ihr Unwesen trieben, so groß wie möglich werden lassen.

Eine Weile später kündigten blinkende Neonlichter an, dass sie sich Loveland näherte. Für ein Mädchen wie sie, war es hier zwar nicht besonders sicher, aber da Girl nicht so aussah, als gäbe es bei ihr was zu holen, außer der Schrotflinte vielleicht, war es auch nicht wirklich gefährlich. Nicht kurz vor vier Uhr am Morgen, und nicht gefährlicher als anderswo.

Sie hatte das Vergnügungsviertel noch nicht ganz erreicht, als sie das Geknatter von Motorrädern vernahm. Sie nahm kaum an, dass es sich heute Nacht um Ancients handelte, also sprang sie in einer Seitengasse in Deckung.

21:04:18

Immer näher kamen die Geräusche. Die Motorräder fuhren langsam, sehr langsam! So, als ob die Fahrer etwas suchten. Jeden Augenblick mussten sie die Gasse passieren. Girl zog sich tiefer darin zurück.

„Hey, wa’tet mal kurz. Ick muss pissen!“, rief eine tiefe Stimme. Oh nein, da wollte doch nicht etwa einer genau in dieser Gasse pinkeln?

Aber genau so war es. Die schweren Schritte spürte sie mehr, als dass sie sie hörte. Sie wurden von den immer noch laufenden Motoren übertönt. Ein Troll, unzweifelhaft ein Spike, betrat die Gasse. Girl drückte sich tiefer in die Schatten und wich langsam zurück.

Der Troll, der Girl noch größer als der aus dem Tuskpower vorkam, war ausgerechnet noch ein schamhafter Troll, denn er beabsichtigte offensichtlich so tief in die Gasse zu gehen wie möglich, damit seine Kumpane ihn nicht mehr sehen konnten.

Girl wich immer weiter zurück. Ihr Vorsprung schrumpfte und bald hatte sie das Ende der Gasse erreicht. Das Ende einer Sackgasse!

Hinter Girl lag Gerümpel. Sie versuchte dort in Deckung zu gehen und überdachte ihre Optionen. Es gab zwei Türen in unmittelbarer Nähe, doch sie nahm an, dass sie verschlossen waren. Niemand ließ Türen in Puyallup offen. Ferner befand sich über ihr eine Feuerleiter. Die Sackgasse endete an einer 3m hohen Mauer. Über den Schutt könnte sie hinauf gelangen, doch die Gefahr war groß, dass der Troll sie dann sah, außerdem wusste sie nicht, was dahinter lag.

Girl entschloss sich, sich noch tiefer in die Deckung des Schutts zurück zu ziehen. Nur 3m von ihrem Versteck entfernt stellte sich der Troll an die Wand. Girl entdecke eine Lücke zwischen Mauer und Schutt. Vorsichtig schob sie die Schrotflinte in die Lücke, schlängelte sie sich hinterher und …stieß etwas um. Geräuschvoll lösten sich einige Teile und rollten den Schuttberg hinab.

Der Troll blickte sich um.

„Mauz!“, tönte Girl intuitiv. Es klang wieder ziemlich nach Katze.

Das fand der Troll offensichtlich auch: „Oh, ne’ Miezeh’katzeh.“ Er schloss seine Hose.

Entspannt atmete Girl auf. Sie grinste breit. Der blöde Spike hielt sie tatsächlich für eine Katze. Sie konnte sich ein leises: „Miau, Miauz“, einfach nicht verkneifen. Es klang wirklich echt.

„Na, wat is Kleene? Haste ve’leicht Hunger? Ko’hm ma’ her. Miezmiez!“

Oh nein, ein Katzenfreund! Girl war an einen prüden Katzenliebhaber geraten. Das gab es doch nicht! Vielleicht gehörten Katzen auch einfach nur zu seinen Lieblingsspeisen. Das spielte jetzt keine Rolle, jedenfalls kam der Troll zum Schuttberg getapert und hockte sich hin.“

„Wo bist’n? Komm, miezmiez. Ko’hm ma her. Regjnet doch die janze Zeit. Ko’hm, zeich’ dich ma’!

Girl tastete nach der Schrotflinte, krabbelte so weit sie konnte nach links und versuchte es mit einem leisen, ärgerlichen: „Fauch!“

Der Troll schob seinen Kopf hin und her und versuchte etwas im Schutt zu erkennen, dabei stieß er eine größere Menge Geröll aus dem Schuttberg. Es polterte wieder.

„Fauch!“

Die Gestalt des riesigen, breiten Trolls erhob sich. Er schlug sich auf die Schenkel: „Na denn eb’n nich’!“

Girl atmete ganz langsam aus.

Sie nahm gerade noch die unmenschlich schnelle Bewegung aus dem Augenwinkel war. Da stieß auch schon die Pranke des Trolls durch den Schutt auf sie zu und ehe sie sich versah, hatte er sie am Kragen gepackt und riss sie hoch.

Mit ausgestrecktem Arm hielt er sie von sich gestreckt, als wäre sie wirklich nur eine winzige Katze.

„Na, da hamwa se’ ja. Und watt für’ne süße! Janz putzig. Ne schnee..:“ das nächste Worte verschluckte er unter einem Rülpser, „…Kaht’ze!“

Girl rümpfte die Nase, als ihr der Gestank nach billigem Fusel entgegenwallte. Fest umklammerte sie die Schrotflinte in ihrer Hand und versuchte sie weiterhin hinter ihrem Rücken zu verbergen.

„Du bist doch net etwah die selbeh kleene Katze, di mainem Kumpel det Jesicht zerkratz hat?“

Der Troll drehte seinen Kopf etwas zur Seite, um seinen Freunden am anderen Ende der Gasse, die immer noch mit laufenden Motoren warteten, etwas zuzurufen.

„Aeyyy, Spikes! Kohmmt doch…“

Girl nutze ihre einzige Chance. Sie riss die Schrottflinte vor und drückte beide Läufe gleichzeitig ab.

Der halbe Kopf des Trolls explodierte vor ihr. Girl fiel zu Boden und rappelte sich so schnell sie konnte auf. Die Schrotflinte hatte sie fallengelassen. 

Wenn der Ruf des Spikes seine Gefährten nicht allarmiert hatte, der Schuss aus dem Doppellauf hatte es bestimmt. Sie hatte keine Zeit.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass sie dem Troll nicht nur das halbe Gesicht weggeschossen hatte, sondern auch den Teil eines Horns. Sie schnappte sich das gute Stück, klemmte es unter einem Arm fest, nahm Anlauf und sprang auf die Feuerleiter.

Ganz knapp erreichte sie sie. Das Endstück klappte herunter. Girl kletterte hinauf, zerschlug das erstbeste Fenster und kletterte umgehend durch das Loch ins Treppenhaus. Dabei fügte sie sich eine tiefe Schnittwinde am rechten Oberarm zu.

Doch sie hatte keine Zeit zu jammern. Denn in diesem Augenblick hörte sie schon Motoren und einen Ruf: „Da oben! Los, schnappt sie euch!“

Erster Stock

Girl überlegte. Treppe rauf oder runter? Das Bersten der Hintertür nahm ihr die Entscheidung ab. Die Trolle hatten die Tür einfach zerschmettert. – Rauf!

Das Gebäude hatte fünf Stockwerke. Sie brauchte gar nicht erst zu versuchen irgendwo zu klingeln. Spätestens nach dem Schuss hatten die Bewohner jeden Riegel vorgeschoben, den sie hatten.

Zweiter Stock.

Sie hörte die Schritte hinter sich poltern. „Hey, lauf doch nicht weg, dann bleibt dir nicht mehr genug Puste für die Sachen, die wir mit dir noch machen!“ Das grausige Lachen, dass dieser Ansage folgte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Dritter Stock.

Girl bekam Seitenstechen. Sie konnte die Trolle schon riechen. Ihre Hörner schon sehen. Gleich mussten die nur ihre langen Arme ausstrecken, um sie zu fangen. Girl mobilisierte letzte Kräfte und legte einen Zahn zu. 

Vierter Stock.

Man waren die schnell. Hatte Girl da nicht eben einen Sporn aufblitzen sehen? Die waren verdrahtet. Teilweise zumindest. Darum hatte der Troll in der Gasse auch so blitzschnell nach ihr greifen können.

Fünfter Stock.

„Elfenmädchen! Die Tür zum Dach ist verschlossen. Du musst wieder die Feuerleiter nehmen. Da, das Fenster!“ 

„Bist du sicher Katze?“ 

„Ja Elfenmädchen, ja!“

Sie trat ohne Rücksicht auf Verluste das Fenster ein und sprang förmlich auf die Feuerleiter. Schnell kletterte sie hoch. Einer der Trolle rief: „Die Leita hält uns nie!“ Ein Husten folgte: „Treppe! Brecht durch die Tür!“

Dach.

Girl sah sich um. Es gab hier so etwas, wie die Überreste eines Dachgartens. Ein Schuppen. Lüftungsschacht. Jeder Atemzug schmerzte. Sie sprintete quer über das Dach und entdeckte neben dem Schuppen eine Holzkiste. 

Es krachte einmal.

Ein Blick vom Dach, nein, dass nächste Dach war zu weit weg. Das würde sie nicht schaffen.

Es krachte ein zweites Mal. Splitter flogen.

Im zweiten Stock gab es baufällige Balkone. Unten stand auf der anderen Straßenseite ein Lieferwagen. Girl kletterte in die Kiste und schloss den Deckel.

Es krachte ein drittes Mal. Sie waren durch.

Girl hielt den Atem an. Sie lauschte. „Wo is’ das Luder hin?“ 

„Findet sie!“ 

„Na, weit kannse nich sein!“

„Elfenmädchen, so funktioniert das nicht. Sie werden dich finden!“ 

„Nein Katze, werden sie nicht, sie sind dumm!“

 „Sie sehen das Blut Elfenmädchen, das Blut!“

Girl sah an ihrem Arm entlang. Der rechte Ärmel ihrer Jacke war vollkommen durchnässt.

„Oh nein, Katze! Das Blut, ich hatte es vergessen. Was soll ich nur tun?“ 

„Du musst springen Elfenmädchen. Reiß den Deckel auf und spring!“ 

„Das andere Dach ist viel zu weit weg, Katze das schaff ich nie! Ich werde abstürzen!“ 

„Nicht das andere Dach Elfenmädchen. Du springst auf den Balkon und von da auf die Strasse!“ 

„Ich weiß nicht Katze. Ich…“ 

„Du hast keine Zeit zu verlieren. Los Elfenmädchen, tu es. Jetzt!“

Girl holte tief Luft. Dann stieß sie den Deckel auf und sprang. 

Polternd landete sie auf dem Balkon. Ein Schmerz durchfuhr ihr linkes Bein. Dennoch verlor sie nicht das Gleichgewicht. Sie biss die Zähne zusammen und sprang erneut.

Sie blickte hinauf. Vier Trolle standen auf dem Dach und blickten zu ihr herunter doch sie sprangen ihr nicht nach. Der Balkon hätte deren Gewicht sowieso nie gehalten. Die Trolle fluchten. Sie zeigte ihnen den Mittelfinger. Einer schoss auf sie, doch er traf nicht. 

Dann humpelte sie eilig davon. Sie hatte keine Sekunde Zeit. Sie wusste nicht ob noch mehr Spikes auf der anderen Seite des Hauses zurückgeblieben waren. Sie durfte nicht ausharren, bis die vier vom Dach wieder motorisiert waren!

Girl blickte abermals an ihrem Arm hinab. Blut tropfte auf die Strasse. Der Regen färbte es erst hellrot und wischte es dann davon.

Unter dem anderen Arm trug sie immer noch das Hornstück vom Troll aus der Gasse. Hirn und ein Fetzen goldenen Stoffes klebten daran. Wie hatte der sie doch gleich genannt? Schneeweiße Katze. Er hatte gerülpst und deshalb hatte es mehr wie Schneekatze geklungen. 

Schneekatze; Snowcat. Die Indianer sagen, den besten Namen bekommt man von seinen Feinden.

Snowcat!

Die hatten sie fast erwischt. Fast! Wenn die Wehen erstmal eingesetzt haben, lässt sich eine Geburt nur noch schwer aufhalten.

Snowcat.

Trophäen: Zwei! „Li’li’llah!“ 

20:57:39

Nach ein paar Minuten zog sie sich in den Eingang eines Hauses zurück und kümmerte sich um ihren Arm. Sie schnitt mit dem Trollmesser umständlich ein Stück von ihrem T-Shirt ab und verband damit die Schnittwunde. Ihr war kalt, doch hier auf der Strasse im Regen zu sitzen, würde es nicht besser machen. Bestimmt nicht.

Ein Auto fuhr vorbei. Die Verlockung war groß, aber es war einfach zu gefährlich per Anhalter zu fahren.

„Na Katze, es hat ja keinen Sinn hier rumzuhängen. Dann wollen wir mal weiter.“ 

„Ja, Elfenmädchen, geh’ weiter. – Ach und Elfenmädchen: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“ 

Lächelnd stapfte sie los. Die Geschenke gibt’s später, dachte sie.

20:48:31

Snowcat hatte ungefähr eine dreiviertel Stunde gebraucht, um Loveland zu durchqueren. Sie war durch Seitengassen gelaufen, die etwas Abseits der Hauptgeschäftsstraßen lagen. Eigentlich sollte sie jetzt längst aus dem Einflussbereich der Spikes raus sein. Doch sie hatte einen von ihnen getötet. Das würde die Ganger sicherlich dazu veranlassen weiter zu suchen. 

Snowcat fragte sich, wie weit sie sich wohl vorwagen würden. Die Trolle hatten sich heute Nacht auf die Suche gemacht, um einen Ancients-Anwärter zu finden. Sie wollten die neue Saat im Keim ersticken. 

Die Spikes waren sicherlich wütend, aber sie kannten das Gesetz der Straße und sie wussten, dass es ein einziges Stück Beute nicht wert war, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Jedenfalls hoffte Snowcat, dass sie das wussten. Loveland gehörte dem organisierten Verbrechen und deren Bosse hatten ihre „eigenen“ Gangs, da war kein Platz für eine Handvoll Spikes. Um 4 Uhr früh begann hier so langsam die Zeit der „Nachtruhe“, deshalb hatte sich niemand für Snowcat interessiert.

Snowcat wurde hungrig. Die Kehle war schon lange trocken. Ihr Bein schmerzte und sie fror stärker. Von hier aus waren es sicher noch 25 Meilen bis nach Tarislar. Gesund konnte sie 4 Meilen in der Stunde schaffen. Im jetzigen Zustand schaffte sie höchstens zwei. Das bedeutete, dass sie zu Fuß zehn bis zwölf Stunden brauchen würde. Sie blickte auf die Countdownanzeige.

19:58:04

Zeit war mehr als genug. Aber die Zeit war auch nicht ihr Problem.

Die Straßen Puyallups wurden immer leerer. Über 80% der Bevölkerung lebte hier unter der Armutsgrenze. Es gab keine Polizei und der Stärkere hatte das Sagen. Verbrechen war hier Hauptgeschäft. Mafia, Yakuza und Co verkauften und lagerten ihre Ware. Leute die hier lebten, gingen jetzt zu Bett, oder lagen schon irgendwo herum, um ihren Rausch auszuschlafen. Eine einzelne Gestalt stellte keine Gefahr dar und jetzt war einfach nicht die richtige Zeit, um sich die Mühe zu machen nachzusehen, ob die Gestalt lohnende Beute war.

Unbehelligt ging Snowcat weiter. Schritt um Schritt.

„99 Flaschen sind da, sie steh’n hier im Regal…“ so klang es leise durch den Morgen. „Du bist dran Katze.“ 

„98 Schüsseln mit Milch sind da, sie steh’n hier im Regal…“

Schon vor einiger Zeit war es hell geworden. Die Strassen schienen verlassen. Hier und da schlief jemand einfach an eine Häuserwand gelehnt. Der Regen hatte nachgelassen, aber nicht vollkommen aufgehört.

Snowcat war nass bis auf die Knochen. Sie hatte kaum noch Gefühl in den Händen. Doch am meisten machte ihr die Müdigkeit zu schaffen. Gerne hätte sie sich einfach irgendwo hingelegt. Ein trockenes Plätzchen hätte sie sicher gefunden. Doch Snowcat hatte viel zu viel Angst davor nicht mehr rechtzeitig aufzuwachen. Oder vielleicht sogar gar nicht mehr aufzuwachen.

An der nächsten großen Kreuzung stand ein Stuffer Shack. Werbung lockte mit Donuts und heißem Kaffe zum Frühstücksangebot. Überraschender Weise war die „fleischliche“ Werbung noch intakt. Snowcat fummelte das Commlink des Trolls aus der Tasche. Es blinkte: „Akku fast leer! Kein AR Empfänger angeschlossen.“

Noch war das Gerät aktiv. Vielleicht hatte der Troll ja ein paar Kreds drauf, die ohne PIN frei waren. Sie wollte es einfach versuchen und betrat den Stuffer Shack. Immerhin war es hier warm.

15:51:33 

Snowcat rief ein paar Icons des Commlinks auf und wurde dann informiert: „Sie haben noch 64 New Yen auf ihrem Barkonto. Achtung Akku fast leer.“ Sie musste grinsen. Kein Benzin, kein Akku.

Doch fast leer, ist nicht total alle. Sie nahm sich einen Einkaufskorb: Drei große Becher selbsterhitzender Milchkaffee mit doppelt Zucker, der Korb zeigte umgehend die zu bezahlende Summe 5,70 an, um dann im Anschluss auf das Donutregal und das Frühstücksangebot bis 9 Uhr aufmerksam zu machen. Hätte sie AR-Sicht gehabt, dann hätte sie nun den Pfeilen in ihre Lieblingsfarbe folgen können und ihr wäre der Bestand an ihren Lieblingsdonuts angezeigt worden. Notfalls ging es auch ohne AR, aber merkwürdig fand sie es schon.

Die Vorfreude ließ sie durch die Gänge schweben. Drei Angebotsdonuts, 8,70. Vier mal Selfmade Instantnudeln  Shanghai Extrahot, 16,40. 3 Packungen Energie Kaugummis in braun, pink und blau, 18,38. Sprühpflaster, Verbandszeug, Eisspray und eine schmerzlindernde Salbe bei Verstauchungen, der freundlich Einkaufskorb empfahl besser ein Medkit zu benutzen, 35,96. Eine One-Size Regenjacke in schwarz mit silbernen Reflektoren, 45,95. Einen Nicht-Original Timberwolves Kapuzenpulli in XS/tall, 55,94. Eine Packung schwarzes Tape, um die Reflektoren abzukleben, 58,83. Eine Dose extrastarker Energiedrink, 60,82. Ein mit Nougat gefüllter Müsliriegel, 62,81.

Kurz vor der Kasse plärrte sie der freundliche Einkaufskorb an: „Sie haben Waren im Wert von über sechzig NuYen in ihrem Korb und können nun zwischen folgenden Geschenken wählen…“ Snowcat nahm das Feuerzeug.

Sie bezahlte und setzte sich dann in den Aufenthaltsbereich. Als erstes genehmigte sie sich einen Kaffee: Erhebung eindrücken, schütteln, 10 Sekunden warten, aufreißen und genießen. Noch nie war ihr dieser Vorgang so wunderbar vorgekommen. Sie vollführte dasselbe Verfahren noch zwei weitere Mal mit Nudeln und kippte den Energiedrink hinterher. „Biepbiepbiep…Akku leer!“

Glücklich und zufrieden verband Snowcat die 15cm lange Schnittwunde. Sie wollte zunächst auch ihren Fuß verbinden, besann sich aber dann eines besseren und ließ den Schuh geschlossen. Das Eis sprühte sie einfach in und auf den Schuh.

Natürlich gingen ihr während der Aktion sämtlich zugeworfenen Blicke am Arsch vorbei. Sie wusste nicht mal ob es überhaupt welche gab.

Sie zog den Pullover an, klebte die Reflektoren ab und warf sich die Regenjacke über. Draußen schmiss sie ihre alte Jacke in den Müll, jedoch nicht ohne ihre Trophäen vorher in die Bauchtasche des Kapuzenpullovers zu stecken, und setzte frischen Mutes ihren Weg fort.

„Fast wie neu oder was meinst du Katze?“

„Ja, fast wie neu! Du hast vergessen Seife zu kaufen. Elfenmädchen.“ Das Fauchen klang sehr unzufrieden.

15:19:01

Meter um Meter kam Snowcat ihrem Ziel näher. Sie war immer noch müde, aber die Verpflegung, die sie gekauft hatte, hielt sie wach. Wach genug. Sie machte einige Pausen. Allerdings fiel ihr danach das Aufstehen immer schwerer. Das Bein machte ihr zu schaffen und das Eisspray war schnell verbraucht gewesen. Um sich den Weg zu verkürzen, malte sie sich aus, wie es bald sein würde. Sie rief sich in Erinnerung wie fantastisch die Atmosphäre noch vor wenigen Stunden bei den Ancients gewesen war. Und wenn das alles nichts mehr half, dann sprach sie mit Katze übers Baden.

Zur Mittagszeit machte sie eine ausgiebigere Pause und legte das Bein hoch. Danach musste Snowcat einige Schritte humpeln. Verwunderlich waren die Schmerzen allerdings nicht. Schließlich war sie vom Dach eines fünfstöckigen Gebäudes gesprungen und hatte nur einen Zwischenstopp gemacht. Wegen des verletzten Beines würde sie wohl doch noch länger als gedacht bis nach Tarislar brauchen. Aber hey, das hier war das Rite Of Passage.

08:16:45

Langsam aber sicher kam ihr die Gegend bekannt vor. Snowcat näherte sich endlich Tarislar. Jeder Schritt kostete sie Überwindung. Nur mal kurz ausruhen, wollte sie. Links von ihr müsste jetzt drei Querstrassen weiter das „T(h)ree Wishes“ liegen. Mittags war es ein Fast-Food-Grill, nachmittags ein Coffeeshop und nachts eine Bar. Eigentlich sollte es da ganz nett sein, allerdings war der Schuppen auch als Verkaufsstelle der „Princes“ bekannt. Der Boden galt zwar noch als neutral, aber da es sich bei den Princes ausschließlich um Elfen handelte, einige sollten sogar mal Ancients gewesen sein, war die Rivalität besonders groß.

Snowcats Neugier erwachte. Wie mochten wohl ehemalige Ancients aussehen. Das mussten ihrer Meinung nach ja unglaubliche Idioten sein. Nur mal gucken, dachte sie sich. Vielleicht war ja zufällig ein Prince da.

„Was meinst du Katze? Ein winziger Umweg vielleicht?“ 

„Wieso Umweg? Von dort aus liegt Tarislar immer noch südlich. Oder etwa nicht Elfenmädchen?“

Snowcat bog links in die Strasse ein.

07:55:22

Tatsächlich lag das „T(h)ree Wishes“ genau dort wo sie es vermutet hatte. Fünf Autos und zwei Motorräder standen auf dem Parkplatz. Ziemlich gut besucht für diese Tageszeit. Wahrscheinlich war der Kaffee prima. Snowcat wuschelte sich durchs Haar und versuchte den Laden ohne zu humpeln zu betreten. 

Der Duft von Kaffee und Kuchen strömte ihr entgegen, obwohl sie eigentlich nicht mehr hungrig war, bekam sie Appetit. Tatsächlich saßen etwa zwei Dutzend Personen in kleinen Gruppen an den Tischen. Der Laden war relativ einfach eingerichtet. Allerdings konnte das auf AR ja ganz anders aussehen. In den letzten Stunden war ohne AR alles irgendwie fad, einfach und trostlos gewesen und dass lag nicht an der Gegend.

Die meisten Gäste waren Metamenschen. Elfen, Zwerge und ein paar Orks. Tarislar war eben nah. Snowcats Aufmerksamkeit widmete sich den drei Elfen an der Dartscheibe. Jedenfalls nahm sie an, dass es eine Dartscheibe war. Eine AR Dartscheibe. Die Elfen trugen alle schwarze Bandanas und waren in schwarzes Leder über roten Klamotten gekleidet. Ehemalige Ancients sehen langweilig aus, dachte sie grinsend.

Snowcat schlenderte rüber. Als einer der drei sich zu ihr umdrehte lächelte sie zaghaft. Sie stellte sich vor, eine kleine, verlassene Katze zu sein. Der Elf sprach sie umgehend an: „Na Süße, kann ich dir behilflich sein?“ 

„Ach nö, ich guck nur so, oder doch, möchtest du mir vielleicht einen Kaffee ausgeben? Ähm, ich bin übrigens Kathrine, aber meine Freunde sagen Kitty:“

„Hallo Kitty, ich bin Funboy. Magst du deinen Kaffee mit viel Milch und Mandelaroma?“ 

Snowcat hielt den Kopf schief und wagte einen langsamen Augenaufschlag: „Gern, Mandel mag ich besonders gern. Funboy ist aber ein außergewöhnlicher Name. Bist du vielleicht in einer Gang oder so was? Seid ihr alle in einer Gang?“

Funboy bestellte wahrscheinlich über AR Kaffee, dann sagte er zu den beiden anderen gewannt: „Spielt mal alleine weiter. Ich setzt mich mit der Kleinen da drüben hin.“ Er nickte in Richtung eines Tisches. 

Die Zwei grinsten: „Klar, mach mal. Warst ja eh am Verlieren, außerdem ist die Aussicht da viel niedlicher.“

„Komm“, sagte Funboy dann zu Snowcat, „Wir setzen uns. Unsere Bestellung kommt gleich. Was treibt denn eigentlich jemanden hierher, der dann nicht weiß, wer die Princes of Blood sind?“ Sie setzten sich.

Snowcat bedachte Funboy mit einem bewundernden Blick: „Echt du bist ein Prince. Na klar hab ich schon von euch gehört. Obwohl ihr nicht so bekannt wie die Ancients seid…“ Funboy zuckte kurz. Snowcat fuhr fort: „Naja, weiß du, ich hab mich heute morgen mit meinem Bruder gestritten, weil ich mich nicht mit nem Jungen treffen darf, den ich süß finde, und danach bin ich einfach abgehauen. Ich hab alles stehen und liegen lassen. Jetzt bin ein bisschen müde, hatte die Nacht davor schlecht geschlafen. Aber ich will noch nicht nach Hause, der soll sich mal so richtig Sorgen machen. –Danke für den Kaffee, der ist superlecker. Genau wie ich es mag.“ Sie machte eine Gedankenschwere Pause: „Jetzt bin ich richtig froh, dass ich hierher gekommen bin.“ Snowcat fügte einen langen Blick mit Augenaufschlag hinzu und wandte sich dann schüchtern ab. Sie wurde sogar rot und schloss mit einem unterdrückten Gähnen.

„Weist du was Kitty? Ich mach dir nen Vorschlag. Ich hab hier jetzt gleich noch was Geschäftliches zu erledigen. Das dauert ne Weile. Ich wohn aber nicht weit von hier. Da bring ich dich dann hin, und du ruhst dich etwas aus. Wenn ich hier fertig bin, dann hol ich dich wieder ab und wir trinken was zusammen. Etwas das noch viel besser schmeckt als Kaffee. Dann können wir uns ganz in Ruhe unterhalten. Und wenn du magst, dann bring ich dich später nach Hause. Hmm? Wie hört sich das an?“

„Das hört sich toll an, aber ich glaube, ich kann das nicht machen. Ich kenn dich doch nicht!“ 

„Du musst keine Angst haben. Ich bin doch ein Prince!“ Er lächelte charmant.

„Du hast Recht, mein Prinz. So machen wir es!“

Funboy gab den anderen ein Zeichen und stand auf. Sie überquerten die Strasse und gingen in ein dreistöckiges Haus. Dort brachte er sie in eine Wohnung im zweiten Stock. 

Funboy wohnte in einem Zwei-Zimmer Appartement. Er war einfach eingerichtet, verfügte aber über ein topaktuelles Trideo. Sämtliche Elektronik war ebenfalls State Of The Art.

Er schien es wirklich eilig zu haben. Schnell zeigte er ihr alles und gab ihr dann einen sanften Kuss auf den Mund. „Ich bin gegen zehn wieder da. Ruh dich schön aus. Bis denn!“ Natürlich schloss er sie ein.

Snowcat überprüfte zunächst, ob sich die Fenster öffnen ließen. Es ging. Zweiter Stock, kein Problem. Sie klemmte einen Stuhl vor die Eingangstür.

„Katze, der kann mich aber gut leiden. Obwohl ich ein bisschen böse darüber bin, dass er mich eingeschlossen hat.“ 

„Natürlich kann er dich gut leiden. Jeder liebt streunende Katzen. Und natürlich will er dich nicht wieder hergeben, Elfenmädchen!“

07:24:48

Zuallererst stellte Snowcat sich den Wecker. Dann warf sie sich auf das Bett und schlief augenblicklich ein.

Zwei Stunden später wurde sie wach geklingelt. Sie war nicht wirklich ausgeschlafen, aber sie fühlte sich besser. Sie ging ins Bad und duschte ausgiebig. Ihr Fuß war geschwollen, aber er tat nicht mehr so weh. An einer Wand im Badezimmer hing ein Medkit. Sie verarztete sich gründlich, den Anweisungen folgend.

Snowcat sah sich in den Schränken von Funboy um. Sie zog eines seiner Sweatshirts über und fand außerdem noch eine Lederjacke mit dem Emblem der Princes. Sie riss das Symbol ab und steckte es in die Innentasche der Lederjacke. Dann packte sie Trollhorn und Spikebandana hinzu, krempelte die Ärmel hoch und zog die Lederjacke ebenfalls an. Weiter hinten in einem Schrank fand sie eine Ares Viper. Auch die steckte sie ein und fügte noch zwei Reservemagazine hinzu. 

Snowcat suchte sich eine Tasche und packte zwei Flaschen Champagner aus Tir Taingire hinein, die im Kühlschrank waren. Unter der Spüle entdeckte sie eine Tüte in der sich bunte Pillen unterschiedlicher Couleur befanden. Snowcat wusste nicht, was das für Pillen waren, aber es waren sicher Drogen, auch die packte sie in den Beutesack. Leider lag hier kein Commlink rum. Im Flur stand an einer Wand ein Skateboard, dass stopfte sie ebenfalls in den Rucksack.

Zufrieden öffnete sie das Fenster, lächelte und sprang.

Trophäen: Drei! „Li’li’llah!“

03:52:11

Medkit, Ruhe und Bad hatten dafür gesorgt, das ihr Bein sie kaum noch behinderte. Snowcat bestieg das Skateboard und machte sich auf den Weg. Die letzten Meilen lagen vor ihr. 

Die beginnende Nacht füllte die Strassen Tarislars. Sie bewegte sich unauffällig, denn sie wollte kein Aufsehen erregen und noch so kurz vorm Ziel aufgehalten werden.

Zunächst hörte sie das entfernte Dröhnen eines tiefen Basses. Dann wurde die Musik immer lauter. Die Strassen wirkten vollkommen verlassen, aber Snowcat war sich sicher, dass irgendwo Vorposten der Ancients waren.

Da war wieder der Geruch von Feuer. Diesmal vermischte er sich mit einem appetitlichen Essensduft. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Weit konnte es nicht mehr sein.

02:49:14

Dann lag es endlich vor ihr: Das Gelände der Ancients! Sie hatte es geschafft!

„Ich bin da Katze! Ich hab’s geschafft!“

„Ich hab nie daran gezweifelt, Elfenmädchen! Genieß das Sahnehäubchen:“

Noch bevor sie mit dem Skateboard die Strasse herunter gefahren war, wurde das Tor geöffnet. Es wurde förmlich aufgerissen. Über die laute Musik hinweg hörte sie Jubelrufe. Die Feuertonnen brannten wieder. Alles schien genau so zu sein, wie gestern Nacht. 

Snowcat fuhr bis zum Tor und sprang dann ab. Erhobenen Hauptes ging sie hindurch. Augenblicklich bildete sich eine Gasse. Blackheart kam ihr, dicht gefolgt von Bloody Mary, entgegen.

„Ancients! Eine von uns kommt nach Hause! Wollt ihr sie nicht anständig begrüßen?“, drang es über die Lautsprecher.

„Telegit thelensa raén reth-ha! I norhara meraerth do Ancients. Ancients, Ancients, Ancients! Li’ li’ llah!”

Snowcat wusste nicht, was ihr der beeindruckende Chor, in den Unzählige einstimmten, zurief. Das „Nach Hause“ klang so süß in ihren Ohren. Es überflutete sie mit Glücksgefühlen. Als Blackheart sie in den Arm nahm, konnte sie ihn kaum noch erkennen. Wegen der Tränen in ihren Augen.

02:45:32

Bloody Mary drückte Snowcat fest und hakte sie dann unter. Blackheart flankierte ihre andere Seite. So geleitete man sie zur Plattform im See aus Feuertonnen. Immer wieder klopfte man ihr auf die Schulter. Alle an denen sie vorbeikam, jubelten ihr zu, klatschten und lächelten sie an. Die Stimmung war sehr ausgelassen. Einige Gruppen tanzten.

Um das Podest herum waren Sitzgelegenheiten aufgestellt worden. Green Lucifer erwartete sie. Er gab ihr eine grüne Flasche „Kesáera“-Bier und umarmte sie herzlich: „Willkommen daheim, Ancient!“.

Dann war Sting an der Reihe. Sie umarmte Snowcat ebenfalls und küsste sie auf die Wangen. „Du bist die vierte, die zurückkehrt, meine Schöne! Setz dich erstmal. Wenn du magst, dann kannst du Ghostfinger erzählen, wie es dir bei deinem Rite ergangen ist. Damit peppt er dann die Zeremonie auf. Du darfst auch schon mal mit dem Feiern loslegen. Aber betrink dich nicht. Du musst nachher noch was sagen!“ Dann streichelte Sting ihr über die Wange und fügte leiser hinzu: „Ich bin froh, dass du es geschafft hast. Du bist auch optisch einen Bereicherung für uns.“

02:39:08

Snowcat trank ein oder zwei Flaschen Kesáera und aß eine Schale mit einem wunderbar schmeckenden Eintopf. Sie berichtete Ghostfinger alles so gut sie konnte und übergab ihm die Trophäen. Irgendwann kam ein weiterer Kandidat an. Auch er wurde euphorisch empfangen. Elf waren ausgezogen, fünf kehrten zurück.

Snowcat tanzte und umarmte immer wieder. Die Zeit verflog wie im Rausch. Eine Minute vor 1 Uhr verstummte die Musik und ein Gong erklang. Snowcat wurde mit den vier anderen auf das Podest geführt. Die letzten 10 Sekunden wurden runtergezählt.

00:00:00

Snowcat war als letzte dran. Wie die anderen vier vor ihr, betrat sie unter lautem Jubel das Podest.

Sting, Green Lucifer und Ghostfinger erwarteten sie. Ein Tusch erklang. Die Ancients schwiegen. Sting kam einen Schritt auf sie zu:

„Ancients, vernehmt die frohe Kunde. elf Elfen zogen gestern Nacht aus und fünf Ancients kehrten zurück!“ Die Menge jubelte.

„Du bist eine von denen die auszogen. Du hast dein Rite Of Passage gemeistert und bist nun eine von uns. Bist du bereit dieses Bündnis mit einem Schwur zu bestärken?“

Snowcats Hände zitterten, aber sie sprach mit fester Stimme: „Ja, ich bin bereit! – Ich gelobe vom heutigen Tage an, bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus alle Ancients mit meinem Leben zu schützen, so wie die Ancients das gleiche für mich tun!“ Erneut jubelten sie.

„Sielle-há. So ist es und so wird es sein. Unter welchem Namen werden deine Freunde dich schätzen und deine Feinde dich fürchten? Welcher Name wird in die ewige Erinnerung der Ancients eingehen?“

„Snowcat!“

„Snowcat, ich heiße dich ein weiteres Mal willkommen!“

Auf der Anzeigentafel leuchtete ihr Name nun in neongrünen Buchstaben.

Snowcat, (199); Rite Of Passage: 05.05.2065;

Green Lucifer trat vor und half ihr feierlich in einen schwarzen Ledermantel. Er war stark tailliert und wurde nach unten weit. Auf dem Rücken leuchtete ein feuerrotes Ancient A. Der Mantel passte wie angegossen. Green Lucifer lächelte: „Perfekt!“

„Ancients!“, begann Sting erneut: „Snowcat hat ihr Rite Of Passage auf besondere Weise bestanden. Sie brachte drei Trophäen mit.“

Ghostfinger fuhr fort. Er erzählte in dramatischen Worten, wie sie zu den Gegenständen gekommen war. Immer wieder brachen die Elfen in Jubel aus. Er endete mit: „Snowcat, du hast dir deinen Preis wahrlich verdient.“ Dann gab er ihr ein neues Commlink mit einem schwarzgrünen Handschuh und einer dunklen AR-Sonnenbrille. Als Snowcat das Gerät einschaltete leuchteten die Scheinwerfer der BMW Blitzen 2068x auf.

Die Scheinwerfer und noch viel mehr: Neongrüne, schwarze und chromfarbene Schmetterlinge flogen überall umher. Das A schwebte wieder über dem Dach und, und, und. Endlich, endlich war Snowcat nicht mehr auf diesem Auge blind. 

Die ganze Nacht feierten sie alle gemeinsam und Snowcat fuhr die eine oder andere Runde mit ihrer neuen Maschine.

Sie war satt, ihr war warm, sie hatte Freunde, eine Familie und ein Zuhause. Geborgenheit, Sicherheit! Sie war nicht mehr allein und würde es nie wieder sein.

Ancients For Ever!

„Li’li’llah!“

„Katze! Danke für deine Hilfe!“ 

„Gern geschehen Elfenmädchen! – Ach Elfenmädchen, wo bleibt eigentlich meine Milch?“

Ein Schnurren erfüllte Snowcats Gedanken.

*reckundstrekgenüsslich* Hoffe Ihr habt Spass; *knutschi*